OBDACH FÜR LESER
Teju Coles Essays sind in den letzten Jahren im „New Yorker” erschienen, wo der Autor bis zum überraschenden Erfolg seines ersten Romans „Open City” nur über Fotografie geschrieben hat.
Der 1975 als Sohn nigerianischer Gaststudenten in den USA geborene Cole, als Baby heim nach Lagos gebracht, wuchs in einer afrikanischen Mittelstandsfamilie auf. Nach der Matura machte er von seinem Geburtsrecht, der US-Staatsbürgerschaft, Gebrauch und ging zum Studium wieder nach Amerika. Der Kunsthistoriker, Fotograf und Reisende versteht sich als Afropolit – Weltbürger mit afrikanischen Wurzeln. Heute unterrichtet Cole am berühmten Bard College in New York.
Über Nigeria schrieb er „Der Tag gehört dem Dieb” über die Erlebnisse auf Spaziergängen durch Lagos. Schon in „Open City” war eigentlich die Stadt – New York – der Protagonist gewesen, wenn auch durch die Figur des Müßiggängers Julius erlebt.
Dass Cole in zwei höchst unterschiedlichen urbanen Gemengelagen und Weltverständnissen zuhause ist, verleiht seinen Beobachtungen und gezogenen Schlüssen, bei allergrößter Belesenheit, nein: Bewandertheit in Literatur, Fotografie, Malerei und Musik, sozusagen eine Doppelnaht Glaubwürdigkeit. Was herauskommt, hat viel für sich, ja: Es gibt aus. Bildung macht das Schauen schöpferisch, Bilder im Speicher laden bei neuen Ansichten zu Vergleichen ein. Teju Coles Aufsätze über Kunst und die Welt lesen sich erfreulich frisch. Im lustvollen Umschauen erahnt er Werte, prüft und gewinnt sie und all das vermittelt Cole weiter.
Nun liegt auch sein drittes Buch im Hanser Verlag Berlin auf deutsch vor: „Vertraute Dinge, fremde Dinge” – Essays über Literatur, Fotografie und das Verstehen der Welt auf Reisen. Diese Themen geben vier Teile in der Aufsatzsammlung: I. Lesen, II. Sehen, III. Dort sein und IV. Epilog. Das Kompendium besteht aus Beobachtungen und Zitaten, Einsichten und Anschauungen dieses belesenen und neugierigen Zeitgenossen.
Dabei erweisen sich Literatur – vor allem Gedichte – und Fotografie als wesensverwandt:
„Gute Fotografie ist Literatur”, soll ja Walker Evans gesagt haben, S.188. Cole denkt ihn weiter, S.229: „Fotografie und Worte erreichen uns im selben Moment. Sie verbürgen einander. Man glaubt den Worten mehr, weil die Fotografie sie bestätigt, und man traut der Fotografie, weil man den Worten traut. Beide üben Druck auf die Interpretation aus.” „Die Kamera ist ein Instrument der Verwandlung. Sie kann das, was sie sieht, schöner, schlimmer, milder, dunkler machen und dabei unbeirrt auf der Faktizität des Abgebildeten bestehen. Ebendas meinte Brecht, als er 1931 schrieb: ,Der Photographenapparat kann ebenso lügen wie die Schreibmaschine.’" (S.233) Nach kritischen Anmerkungen zu erfolgreichen Schnappschüssen vom Unglück Fremder zieht Cole den Schluss, dass nicht die zu vielen verstörenden Bilder das Problem seien, sondern der Mangel an solchen, die zeigen, was die Betrachtenden schmerzt – anstatt ihre Sensationslust zu befriedigen.
Für den Autor ist die Frage nach dem Narrativ, d.h. dem gemeinhin Erinnerten, in unserem Zeitalter fast schon vom kollektiven Bildergedächtnis abgelöst. Fasziniert von Brasilien, wo die gezwungenermaßen heimisch gewordene Yoruba-Kultur aus Nigeria bizarre Blüten hervorbringt, macht sich Teju Cole in São Paulo fieberhaft auf die Suche nach dem Platz, wo René Burri ein halbes Jahrhundert davor seine Kamera platziert haben muss, um die Aufnahme zu schießen, die seine, Coles, Vorstellung von der Niemeyer-Architektur prägte. Dass er den Platz letztendlich findet, erzählt er spannend, und wie er dabei eine Menge über Fotografie dazulernt, erfahren wir auch. Wobei Cole, quod erat demonstrandum, den Durchbruch zur Erkenntnis, Heureka, letztlich seinem Gedächtnis verdankt: Er erinnert sich, aufgeschnappt zu haben, dass der Fotograf damals, entgegen seinem Auftrag, ein anderes Objektiv verwendet hätte... Selber lesen und das Ganze als Schule des Sehens verstehen!
In zwei Essays geht es um die Möglichkeiten, sich die Flut im Internet eingespeister Bilder künstlerisch zunutze zu machen. Von der ausprobierten Suche nach ähnlichen Bildern – in Form, Farbe, Sujet-Anordnung – kommt Cole darauf, dass nun auch das planmäßige Verwischen der Suche, das Tilgen ihrer Spur möglich ist. Es faszinieren ihn KünstlerInnen, die das Verschwindenlassen über die Herstellung von Bildern positionieren; etwa der bayrische Künstler Thomas Demand, der von seinen Artefakten ein Foto schießt, bevor er sie – akribisch aus Papier nachgebaute Schauplätze der Geschichte, deren Verbilderung im Narrativ, der gewohnten Erzählung, Ikonen gibt, Gemeinplätze der gemeinsamen Anschaulichkeit – zerstört.
Und so wird aller Zweifel gegen neue Medien zu Zuversicht: „Wieder traf Maschine auf Geist, und die Maschine wusste vom Geist, was dieser zuvor selbst nicht gewusst hatte. Die Maschine hatte ihre eigenen Ideen. Doch im Strahlensaum, der die Konturen umspielte, deuten sich, wie immer, neue Möglichkeiten für die Kunst an, neues Licht für die Seele.” (S.206) Ist es nicht grundsätzlich so, dass, je mehr jemand gesehen, vernetzt und als sich als verspannbar gedacht hat, umso mehr Optimist sein muss? Dann sind die Lesenden und die Reisenden die lösungskompetenteren Menschen. Ihnen heißt es vertrauen.
Mit dem Sehen hat es folgende Bewandtnis: Der des Reisens und Lesens geübte Mensch springt mit seinen Fragen hin und her zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Erlebtem und Gelesenem. In „Tod hinterm Browser-Tab” macht sich der Foto-Kolumnist Cole Gedanken über die Verfügbarkeit von gefilmtem Sterben, von Kriegsfotojournalismus bis zu Snuff-Movies. (Cole selbst hat den Schauplatz einer mitgefilmten Tötung – des Schwarzen Walter Scott, 2015 in einer Kleinstadt in North Carolina, im Kugelhagel eines Polizisten – zum Gegenstand einer Begehung und Bewertung gemacht.) Seine Gedanken sparen selbst längst ausgewertete Gemälde, der Kunstgeschichte übergegebene Todesabbildungen wie Holbeins 1526 entstandenen „Todestanz” nicht aus. Die Studierenden sind zu beneiden, denen Cole seine aus dem Leben gegriffenen Einblicke in die Vergangenheit darlegt: „Die Auseinandersetzung mit [...] dem Totengerippe, das verschiedensten Kandidaten seine Aufwartung macht: einer betenden Nonne, einem pflügenden Bauern, einem Papst auf seinem Papststuhl, einem Ritter in voller Rüstung [...] warf ein neues Licht auf Videos wie das vom Tod Walter Scotts: Sie reihen sich in die lange Tradition der Darstellung des Todesmoments ein, des Bemühens, den rätselhaften Augenblick zu begreifen, in dem das Selbst auf immer entselbstet wird.” (S.219) – Das Fotografieren des Todes erhält Coles Zustimmung keinesfalls: „Wird einem aber der Tod in dieser Weise vorgeführt, mit so viel dramatischem Flair gebannt, beherrscht eher der Tod die Bühne als der Mensch, der den Tod findet.” Damit beantwortet sich freilich eine – sehr europäische – Frage, die Cole mehrfach stellt: Wie es möglich war, dass die größten Menschenverächter unter den Nationalsozialisten so genannte humanistische Bildung genossen haben, ja sich ihrer Kenntnisse der griechischen Philosophen und literarischer Klassiker zu rühmen pflegten... Die Anwort müsste hier lauten: Weil sie ihr Wissen nicht mit dem Leben in Zusammenhang brachten, sondern als Museum verstanden.
Anders Cole: Bei ihm ist alles verfügbar und lebendig, was ihm je untergekommen ist. Er ist wach unterwegs, sich eines Sinns bewusst, zu dem alles führen wird, was er sich überlegt hat. Er ist ein Lernensoptimist.
So gefällt ihm auch V.S.Naipauls Roman über die lebenslange Suche des westindischen Protagonisten nach ,seinem‘ Ort. Cole schreibt, S.46: „Gegen diese traurige Anonymität, gegen Resignation, gegen das Dunkle setzt ,Ein Haus für Mr Biswas’ Wissen, Entschlossenheit, ungeschöntes und erbittliches Leben, und so wird dieses Buch in seiner ganzen komplexen Länge zum Obdach für seine Leser.” – In einem zweiten Aufsatz über den geschätzten exterritorialen Inder beschreibt Cole verschmitzt und lebendig, wie er den verehrten Naipaul auf einer Dinner Party in einem Penthouse in Manhattan persönlich kennenlernt und die beiden intellektuell Fangen spielen.
Über Tomas Tranströmer, den bescheidenen (ebenfalls Nobelpreis-)Dichter der vergleichsweise kleinen schwedischen Sprache, findet Cole die Worte: „Seine Gedichte sind von einer luminösen Schlichtheit, die sich weitet, bis sie das Ego aus dem Nest stößt – da hockst du dann allein mit der Wahrheit.” Mich erinnert das an die Formulierung des Flamen Van Bastelaere: „Weil es die Abwesenheit gibt / gibt es die Poesie.” Oder, beim Niederländer Martinus Nijhoff: „Der Mensch findet sich [...] bei der Poesie nicht in der Nähe eines anderen [...]. Er ist sofort im Universum. Jedes gute Gedicht enthält diese Konfrontation von reinem Universum und Innerem.”
– Zurück zu Coles Definition von Tranströmers Meriten: Bei Tranströmer, schreibt Cole, sei das Raumgefühl ein anderes: Ein Körper wird Ding, der Verstand zum Schweben gebracht, die Dinge besitzen ein Eigenleben, und selbst Nichtdinge, selbst Ideen leben. (S.48)
Ein ganz wichtiges Vorbild für den afrikanischen Weltbürger mit Hauptwohnsitz in New York ist W. G. Sebald, bei dem sich dieselbe Qualität lernen lässt: Ihn sprächen, so Cole, „unbelebte Dinge an, Ruinen, zerstörte Landstraßen und Orte, die durch die Gewalt der Natur und der Geschichte bis auf letzte Reste getilgt sind.” In einem Essay über einen Maler hat Sebald bemerkt: „Da die Dinge uns (im Prinzip) überdauern, wissen sie mehr von uns als wir über sie; sie tragen die Erfahrungen, die sie mit uns gemacht haben, in sich und sind – tatsächlich – das vor uns aufgeschlagene Buch unserer Geschichte.” – Sebald liest Teju Cole mit einem Bekenntnis zum Animismus, den Künstler der Welt einhauchen können; ja, eigentlich Spinozismus, wie Yin sich an Yang schmiegt. (S.56f.)
Eigentlich bekennt der Autor sich zu keiner Weltreligion, hängt aber „ein bisschen an einzelnen Yoruba-Gottheiten und den griechischen Göttern; ihre Geschichten sind einfach zu gut, zu hellsichtig, um sie ganz über Bord zu werfen.” Auf die Gretchenfrage, woran er glaube, lautet Coles Antwort: „Vorstellungskraft, Gärten, Wissenschaft, Gedichte, Liebe und diverse gewaltlose Formen von Trost.” (S.108). Um Coles Religion zu ergänzen: Er glaubt an die Ordnung der Dinge; sonst würde er nicht „vertraute Dinge” den „fremden”, d.h. neu hinzugenommenen, migrierten, anverwandeln. Wohlgemerkt: Es geht Cole nicht um imperialistische Einverleibung und Integration ins Bestehende. Er heißt Hinzukommendes willkommen und hält die Kompassnadel bereit, nie den Zeigefinger.
Coles zweiter Aufsatz über Sebald ist eigentlich die Erzählung eines Ausflugs an Stätten aus dessen Lebensraum in Norfolk – im Sebald'schen Stil: mit offenen Augen, gewissenhafter Beobachtung und freiem Heranspinnen von Assoziationen, die aus Zufällen überzeugende Zusammenhänge generieren. Denn zufällig lernt der einer akademischen Dienstreise abtrünnige Cole in seinem örtlichen Taxifahrer Jason einen Menschen kennen, der Sebald im Bedürfnis nach Geschichte-Erinnern als Erinnern des schon zu Lebzeiten Ungewürdigten verwandt scheint. Mit Sebald verbindet Cole – und alle Menschen, die viel gelesen haben und selbst das Reisen wie Lesen betreiben –, dass, wem viel untergekommen ist, viel zusammenspinnen (i.e. verweben, texten) kann und sich auf so manches einen Reim machen. Diese Qualität ist Menschen unverständlich, deren Wahrnehmung sich auf das Display ihres Kommunikationsgeräts beschränkt. Dazu kommt, dass Cole und Sebald beider Doppelgleisigkeit als Fotograf wie Schreibender verbindet. Damit gilt ihre erhöhte Aufmerksamkeit der Art des Lichts, das Objekte bekommen müssen, wollen Übermittler wie Empfänger sich mit ihnen auseinandersetzen.
In einem Interview durch seinem „New-Yorker”-Kollegen Aleksandar Hemon fragt dieser Cole, ob er nicht auch meinen würde, Sebald verwendete in seinen Texten Fotos, um ihre Unzuverlässigkeit als Dokumente zu zeigen und die Erzählung als Vermittlerin in die Vergangenheit oder den fernen Ort auszuzeichnen.
Doch Cole, der in seinem zweiten Buch nach „Open City” (worin ein Flaneur sich und vieles, das ihm im Kopf umgeht, durch New York City trägt), dem aus einem Reisetagebuch-Blog hervorgegangenen Lagos-Großstadtbuch „Der Tag gehört dem Dieb” ebenfalls Fotos zu Texten stellt, glaubt, Sebald hätte mit den Bildern, die vielfach Fundstücke waren, den Leser zum Überprüfen der behaupteten Authenzität anregen wollen und dadurch die Aufmerksamkeit für Details fördern. (S.97)
Besondere Erwähnung findet bei Cole Sebalds mit Fotografien versehener Reisebericht über eine Fußwanderung durch dessen englische Wahlheimat, „Die Ringe des Saturn”. Wie so oft denkt darin Sebald unter Zuhilfenahme von Bildern, darunter Gemälden. Cole schätzt am meisten Sebalds Vermittlung von „die große Dunkelheit, das schimmernde Licht”: „Seine Bücher sind unsere vor uns aufgeschlagene Geschichte.” (S.57f.)
Cole wird nie müde, sich zum Genuss von Gedichten zu bekennen, obwohl er selbst (noch) keine schreibt. Auf jeden Fall sind sie in ihm wach, sonst könnte er sie nicht bei passenden Gelegenheiten heranziehen. So heißt es anerkennend über den anderen geschätzten Literaturnobelpreisträger aus der Karibik: „Kaum einer findet Metaphern wie Walcott”. Was aus Walcotts Gedichtsammlung „Weiße Reiher” zum Beweis dafür herangezogen wird, macht Geistesverwandte auf den Rest gespannt. So erweitert Cole Bibliotheken – materiell gesprochen. Seine mitteilungsfreudige Begeisterung bereichert Leser. Als Beispiel für die geistige Nahrung, die Walcott-Lesern gegeben wird, zitiert Cole eine Stelle aus „Mittsommer”, die heißt:
die gesichter der passagiere vor den zusammen-
geschobenen trolley-wagen
wo's zur u-bahn hinabgeht sind die von schauspielern
die sich gehaben
als ging ein stück grad zu Ende.
Ich nehme an, diese Walcott-Übersetzung stammt von Raoul Schrott; die überraschende Großschreibung des letzten Worts lässt darauf schließen und auch, dass seine deutsche Version an Ezra Pounds Haiku erinnert:
Ezra Pound
In A Station Of The Metro
The apparition of these faces in the crowd; Petals, on a wet black bough. |
übs. Ute Eisinger In einer U-Bahn-Station
Aufblühen von Gesichtern in der Menge: Blätter auf nass-schwarzem Ast. |
Dass Cole das nicht erwähnt? Vielleicht lädt das Original zu dieser Assoziation nicht ein. Wie dem auch sei: Cole schätzt an Walcotts Metaphern, dass er sie (wie Skalden ihre Kenningar) „mit homerischer Souveränität im Laufe der Jahre erneut heranzieht, zum stillen Wasserzeichen und Siegel des Werks” werden lässt. Am besten dünken Cole „jene Metaphern, die er an den Urgrund seiner Kunst bindet, an Grammatik und Syntax: Wenn ,Libellen schweben wie ein Schwarm Adjektive', wenn er seinen verstorbenen Vater ,in der Klammer' des Treppenaufgangs zögern sieht oder wenn ,wie Kommas / in einem Kassenbuch Möwen die Zeilen der Wellen abhaken'.” Mich wundert, dass Joseph Brodsky hier unerwähnt bleibt, befreundet mit Walcott bis zur gegenseitigen Zueignung gewichtiger Gedichtzyklen des Alterswerks... Brodsky, der die Sprache und Schrift beim Wechsel von Land und Kultur genau beobachtete, liebt ebenfalls Metaphern, die von Buchstaben- und Grammatikbeobachtung zeugen.
Ja, Brodsky fehlt! Jemand, der oft mit Susan Sontag verglichen wird – wieder ist die Affinität zur Fotografie hier eine Gemeinsamkeit – und sich das gern gefallen lässt, wird sich wohl mit Brodsky beschäftigt haben. Ebenso gehen mir Charles Wright und Adam Zagajewski unter Coles Lieblingen ab, Czesław Miłosz und Roberto Juarroz. Doch das Lesen geht weiter...
Auch für die Rezensentin sind einige zitierte AutorInnen neu, etwa André Aciman, ein Wiedergänger – den Orten der Biografie nach – von Konstantin Kavafis. Es fällt auf, dass Cole sich besonders für Dichter interessiert, die mit den Aufenthaltsorten Perspektivenwechsel erleben. Aciman ist ein Dichter, der sich beobachtend bewegt, um in der Wahrnehmung die bestmögliche Erinnerung abzuschöpfen. Er hat Reiseessays geschrieben, bei denen ihm um die Öffnung von „Schleusen der Erinnerung” zu tun ist: „Man schreibt nicht erst, wenn man die Dinge durchdacht hat, man schreibt um sie zu durchdenken.” Wie wahr. Auch Cole reist, um schreibend in der Welt – und über sie – zu lesen oder die Welt zu betrachten, indem er sie schreibt.
Mit dieser Absicht arbeiten Coles Lieblingsdichter – fast alle mit einem Nobelpreis ausgezeichnet – gegen die Vergänglichkeit an; allerdings nicht aus Nostalgie; im Gegenteil: aus Aufklärungsbedürfnis. Die Beschäftigung mit der Welt, sollten auch Teile von ihr mit der Zeit abgelaufen sein, überdauert Vergangenes, ja macht es nachträglich nutzbar: aufmerksamen Lesern auseinandergesetzt, damit diese sich damit auseinandersetzen mögen. Cole nimmt mit großem Genuss am von ihm vermittelten Erkenntnisprozess teil. Er gibt weiter, was er herausgebracht hat.
Am meisten von allen Dichtern schätzt Cole Seamus Heaney. Der ist weniger gereist, aber steht in der anglophonen Tradition der Naturforscher, die sich durch Untersuchung der unmittelbaren Umgebung mit der Welt beschäftigen. Bei Heaney wirkt das weniger viril als bei Ted Hughes, dafür gemütlicher; vielleicht weil er fröhlich-katholisch und glücklich verheiratet war. Was schätzt Cole an Heaney? Immerhin stammt der Titel seiner Essaysammlung: „Known and Strange Things” aus dem Heaney-Gedicht „Postscript": Darin fährt jemand – der Dichter – an einen Strand, um mit dem herbstlich-grauen Ozean allein zu sein. Er sieht Schwäne leuchten, befindet sich auf einmal in einem Zustand aus Realität und Transzendenz, möchte, aufgewühlt, mit dem Wagen näher heran – da rüttelt ihn ein Bö durch und macht ihm bewusst, dass der Erkenntnisaugenblick, worin Bekanntes und Fremdes aneinandergeraten, geschenkt und nicht regelbar ist.
Cole, den ich auf einer Buchpräsentation in der Wiener städtischen Bücherei erleben durfte, arbeitet gerade an einem Fotobuch über die Schweiz. Aus Dankbarkeit für seine Künstlerresidenz in Zürich sind mehrere Aufsätze entstanden. In einem tritt er in die Fußstapfen seines afroamerikanischen Vorbilds James Baldwin, indem er denselben Kurort in den Alpen, Leukerbad, besucht und seine Eindrücke mit dessen Tagebuchnotizen vergleicht – v.a. die Frage betreffend, wie man dunkelhäutigen Touristen im beflissen schneeweißen Fremdenverkehr begegnet (ist). Cole lässt sich nebenbei auf die Alpen ein, erzählt, wie es zu einigen Bildern gekommen ist – die besprochenen Aufnahmen sind im Bildteil enthalten – ohne sich über die Schweiz als gegenwärtiger Staat zu äußern; wie er bemerkt: weil er keine ihrer vier Sprachen beherrscht. Dafür beschäftigt ihn der von Schweizer MigrantInnen geprägte Begriff „Heimweh”, dem das Antonym „Fernweh”, welches Cole näher steht, logisch gegengebildet wurde. Sein Sehnsuchtsort „Schweiz” ist demnach für Cole der Fort-Ort von daheim, die Sehnsucht nach gewechselter Tapete mit für ihn exotischer Naturkulisse: „Ich habe mich nie schweizerisch gefühlt. Ich hatte nie das Bedürfnis, in die Schweiz zu ziehen. Der Reiz lag einzig und allein in der Ferne, in einer verlässlichen Entfremdung.” Beim Fernweh, definiert er, seien Kur und Krankheit dasselbe: „Heimweh nach dem Gefühl, weit weg zu sein.” (S.249) – Cole kennt das, weil er, der sich in Nigeria als „Amerikaner” fühlte und erst nach Umzug in die USA afrikanisch, von Anfang an seine Identitätsfindung mit dem Fernweh verknüpfend.
Die Suche nach dem Sehnsuchtsort führt dabei immer wieder die Frage nach der Hautfarbe mit: In den USA schwarz zu sein, sei für Amerikaner anders als für Afrikaner: Es bedeute einen wesentlichen Unterschied, ob jemand sich als immer noch unterprivilegierter Nachfahre von Sklaven erlebt oder als Ausländer, den man mit der ersten Gruppe in einen Topf wirft: „Die Geschichte der Mehrzahl der Schwarzen in diesem Land – die Geschichte der Sklaverei, der Reconstruction-Ära, der systematischen Entrechtung und der Bürgerrechtsbewegung – war nicht meine [. Die war] eine der Emigration, der Anverwandlung und des andersgearteten Exils.” Prominentester Nutznießer dieser Situation, für Cole in zwei Aufsätzen Thema, ist der gegenwärtige Präsident Obama, der, aufgewachsen in einem amerikanischen Mittelklassehaushalt in weißer Umgebung, aufgrund des farblichen Missverständnisses für einen amerikanischen Schwarzen gehalten wird; dabei ist er ein Farbklecks auf dem Hippie-Kleid des weißen Establishments.
Obwohl Obama-Wähler, weil Demokrat, wie er schreibt, zieht Cole kritisch mit dem gegenwärtigen Präsidenten ins Gericht. Er stellt fest, dass sich seit James Baldwins Zeiten zu wenig zugunsten der Afroamerikaner verbessert hätte. Baldwin beklagte sich 1965: „Mr Kennedy ist gestern erst angekommen und heute schon auf dem Weg zur Präsidentschaft. Wir sind seit vierhundert Jahren da, und da sagt er uns: Wenn ihr euch ordentlich benehmt, dürft ihr vielleicht in vierzig Jahren Präsident sein.” (S.262) – Aus diesen Worten lässt Cole uns den Schluss ziehen: Mit Obama als unechtem Afroamerikaner sei nicht einmal Kennedys herablassendes Versprechen eingelöst; umso mehr, als auch der beliebte ehemalige Verteidigungsminister Colin Powell, um einen weiteren Alibi-Schwarzen heranzuziehen, kein gebürtiger, sondern zugereister Afroamerikaner ist. Cole zieht daraus den Schluss, dass die Republikaner sich nicht von der Tatsache bedroht fühlten, dass Obama oder seine Wähler schwarz wären, sondern vom Paradigmenwechsel: dass es nicht um die Frage der Hautfarbe, sondern der Bildung – Vorurteilsfreiheit – ginge: Nach dem Sieg Obamas hätte die andere Seite erfasst, „dass nicht die schwarz-weiße Dichotomie gefährdet war, sondern die Vorstellung, dass ein Amerikaner entweder schwarz oder weiß sei. Was käme denn noch alles nach diesem dubiosen kenianisch-indonesisch-hawaiianisch-amerikanischen Mix?” – Mit Obama, so Cole, hätte sich die althergebrachte Vorstellung des Heimatlandes zum Leidwesen der reaktionären Republikaner als unhaltbar erwiesen: „Keine Hybride bitte, wir sind Amerikaner.” (S.268)
Weil mit beiden Beinen auf der Erde steht, wer viel reist, viel gesehen hat und vor allem, permanent an der Verquickung von Gewusstem, Erfahrenem und Erlebten arbeitet, kann man Cole getrost vertrauen. Umso mehr, als er aus dem Hintergrund von – zwei, nein: drei – ganz unterschiedlichen Kontinenten denkt. Nach Aufgewachsensein in Afrika und Erwachsenenleben in den USA erfordert ein Kunstgeschichtestudium, Europa zwischen 8. vor- und 18. nachchristlichen Jahrhundert mitzudenken. Auch wir sind also in Coles Kopf, und er ist einer von uns.
Durch diese Dreigesichtigkeit haben wir in Cole einen verlässlichen Vergil – nach Afrika. Was er über zeitgenössische afrikanische Kunst, v.a. Fotografie, und Literatur – allen voran den nigerianischen Nobelpreisdichter Wole Soyinka – denkt, ermutigt dazu, sich auf fremdes Terrain zu wagen, sich mehr mit dem einzulassen, zu dem alle Bezüge fehlen. Nicht nur Afrika ist den meisten ein weißer Fleck in der Wahrnehmung; das zu ändern, ermuntert Teju Cole umso mehr.
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