Kritik

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Hamburg

An Jan Skudlareks rororo-Sachbuch "Der Aufstieg des Mittelfingers" gibt es insofern nichts zu bemäkeln, als es genau, wirklich aufs i-Tüpfelchen genau erfüllt, was Aufmachung, Titel und Untertitel verheißen: Wir halten ein zwar popularisierendes, aber doch kompetent kompiliertes Buch über "PC-culture" in den Händen, das sich auch mit dem augenscheinlichen Erfolg beschäftigt, den "anti-PC"-"Populisten" neuerdings überall in der sogenannten westlichen Welt haben. Es geht mithin darum, wie das Ding, das früher der öffentliche Diskurs war, sich ins Gehege des Scheinprivaten, "Persönlichen" und damit tunlichst des Un-Abstrakten verpflanzt findet. Der Duktus lässt an ein zweihundert lockere Buchseiten füllendes Feuilleton denken, die einzelnen Beispiele und Fußnoten sind auf möglichste Tagesaktualität und offenbar auf ihre bruchlose Verknüpfbarkeit mit tatsächlich im Fernsehen oder in der ZEIT gerade zu verfolgenden Stories hin optimiert. Selbst die Dokumentation kommt eher den Erfordernissen der journalistischen Sorgfaltspflicht nach als den Regeln der philologischen Zitierweise (oder von mir aus der soziologischen) … "Der Aufstieg des Mittelfingers" ist als Übersicht darüber nützlich, was vernünftigerweise über ein klar abgegrenztes, nicht unwichtiges Zeitphänomen innerhalb eines bestimmten soziopolitischen Kontinuums ('Schland) zuerst beobachtet und dann ohne weitere Mühen gedacht werden kann.

Das Ganze wirkt, als ginge es im Zuge eines ca. "öffentlich-rechtlichen" Auftrags darum, aufs Neue in der Bevölkerung das Wissen zu verankern, dass da ein Unterschied zwischen freier Meinungsäußerung, Kreditschädigung und Volksverhetzung ist (beziehungsweise andersherum: zwischen kritischer Widerrede, privater Aggression und Zensur). Die Aufhänger sind klar und naheliegend: Natürlich "geht es" in diesem Buch um Böhmermann, Trump und Bernd Höcke1, um das, was einer Feuilleton-Leserschaft als "Zusammenbruch des zivilen Umgangs" erscheinen muss; um die Frage, wie man sich mit "denen" jeweils verständigt.

… Antwort eins: Wer so von "denen" redet, hat schon fast verloren. (Stimmt natürlich, aber auch wieder nur fast, weil mit "denen" als empathischer Ingroup/Outgroup-Kategorie auch die Option wegfällt, überhaupt über "die" nachzudenken).

Antwort zwei: Das Internet sei ca. schuld, weil something something Neurobiologie. Also: "Verkörpertes" Kommunizieren ermögliche verlässlicher das Platzgreifen von Empathie, das "nicht verkörperte" Miteinanderumgehen im Netz dagegen ermögliche das Davongaloppieren unserer doofsten Impulse … Dieser letztere Ansatz zeigt (mir, dem gern widersprochen werden kann), gerade weil er gut genug empirisch belegt ist, wie nutzlos die Exkurse neurobiologischen Denkens ins Territorium gesellschaftlicher Diskurse sind, zumindest in ihrer popularisierten Darreichungsform: Nichts, das in den entsprechenden Kapiteln des vorliegenden Buches steht, widerspricht dem, was vor knapp hundert Jahren Sigmund Freud über die Ursachen für den Zusammenbruch persönlicher Schamgrenzen geschrieben hat; es hängt nur – und hierin gut begründet – als privilegierten Schauplatz dieses Zusammenbruchs das Internet hinten dran. (Mit der Lehre vom verkörperten und dem körperlosen Sprechen ist praktischerweise ausgeklammert, warum es just jener bestimmte antizivilisatorische Dreck ist, den die Leute, einmal "entkörpert", in sich aufgewühlt finden, und kein anderer – aber genau das wäre ja die entscheidende Frage.)

Die vom Verlag angepeilte Vermarktungsstrategie scheint – Erscheinungsdatum Oktober 2017 – ca. zu sein, das ideale Weihnachtsgeschenk- und "Nachdenkliche-Jahresrückschau"-Buch für Familienmitglieder geouteter Online-Trolle, "Besorgterbürger" und andererseits nölig-deklarierter "Gutmenschen" im Angebot zu haben. Und selbst dieses so inhaltlich falsche wie verführerisch normalitätsstiftende Ineinssetzen von Tätern und Opfern bzw. Tätern und Zeugen, das der Rezensent da eben vorgenommen hat – hier, sagen wir, AfD-Wähler, da andererseits Anti-AfD-Protestierer, und dazwischen die "politisch Normalen" mit dem Hausverstand, und dann alle gemeinsam unterm Weihnachtsbaum – dieses Vergleichen des Unvergleichlichen, das es erlaubt, jede beliebige Blattlinie mit aufrechter "journalistischer Ausgewogenheit" zu vertreten, ist im deutschen Feuilleton und damit auch Skudlareks Buch par for the course. Es erfüllt dort exakt die selbe Funktion wie hier: Hinwendung an die Leser, Eröffnung eines Großenganzen, Versuch der Einordnung des je Beschriebenen in eine Ordnung der Dinge, Gretchenfrage. Das ist nun Skudlarek nicht vorzuwerfen, das macht das Format, nicht der Verfasser …

… und damit wären wir beim Kern der Kritik an "Der Aufstieg des Mittelfingers". Denn: Warum rororo genau dieses Buch, und genau jetzt, im Programm haben will, und was es seinen Lesern nützen wird, ist völlig einsichtig. Völlig uneinsichtig dagegen ist, warum es gerade Jan Skudlareks bedurfte – eines Autors, der erwiesenermaßen deutlich mehr drauf hat – diese Auftragsmassenware viel eher zusammenzuschrauben als wirklich zu schreiben.

Skudlarek kann besser argumentieren und sich besser ausdrücken, als der Jargon dieses Buchs – und aller anderen heiteren Sachbücher vergleichbarer Formate – zulässt; sein uns bekanntes Sprachgefühl würde gerade zu diesem Thema weit mehr erlauben, als dieser heitere – und, to be sure, absolut sachgerecht dargereichte – Plauderton hergibt. Der Rezensent, selbst lange leidgeprüfter Lieferant von Texten-zu-Deadlines-zu-Themen, glaubt die Stellen markieren zu können, wo der löbliche Impuls Skudlareks – "Gehen wir der allgemeinen Hysterie mal allgemeinverständlich auf den Grund!" – im Einzelnen Ab-/Satz an den vermeintlichen Sachzwängen der konkreten Buchmarkt-Nische zerschellte; wo die "komplizierte"-abstrakte Formulierung durch eine lustige Anekdote ersetzt zu werden hatte ("Weil das verstehen die Leute besser!"), wo die effektvolle Ellipse erklärend aufzulösen war und ganz allgemein der Spaß der Ernsthaftigkeit sein Ende haben musste, weil es der Bewusstseinsindustrie mit nichts so ernst ist wie mit der Dauerbespassung. Schade drum.

Langer Rede kurzer Sinn: Für das, was es ist, ist "Der Aufstieg des Mittelfingers" ein sehr o.k.-es Buch; es wäre, gerade von diesem Autor, viel mehr gegangen, aber nicht in den engen Grenzen des vorgelegten Formats.

  • 1. Der Mann heißt Bernd. Alles andere ist Lügenpresse.
Jan Skudlarek
Der Aufstieg des Mittelfingers
Warum die Beleidigung heute zum guten Ton gehört
rororo
2017 · 256 Seiten · 9,99 Euro
ISBN:
978-3499632990

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