„Mayne Oygen zaynen blind fun mayn khurbn“
Die millionenfache Ermordung der europäischen Juden in Konzentrationslagern mit dem Wort „Holocaust“ zu bezeichnen, ist alles andere als selbstverständlich. Theodor W. Adorno, dessen philosophisches Werk wie kein zweites unter dem Eindruck der Greuel steht, spricht in seinem Werk ausschließlich von Auschwitz. Nicht zuletzt durch den berühmten mehr als neuntstündigen Dokumentarfilm von Claude Lanzmann aus dem Jahr 1985, wurde das hebräische „Shoah“ (Katastrophe, Vernichtung) allmählich gängiger. Worin liegt das Problem? Holocaust ist altgriechisch und bedeutet (vorgängig) Brandopfer. Im Mittelalter wurden auch Judenpogrome Holocaust genannt. Diese Bedeutung unterstellt dem Schrecken der Massenvernichtung einen religiösen Sinn, ermöglicht die Lesart, es habe so kommen müssen. Das wird von Antisemiten sogar so weit getrieben die Ermordungen als Buße zu verstehen. Der New Yorker Dichter Jerome Rothenberg, geboren 1931, selbst polnisch-jüdischer Herkunft, lehnt den Opfertod als Euphemismus ab und gibt seinen 15 Gedichten, die wie ein Text gelesen werden wollen, den Namen, mit dem in seiner Familie von der Katastrophe gesprochen wurde: das jiddische „Khurbn“.
„Khurbn war das Wort, das ich dafür kannte: ein Wort mit einer Geschichte, aber ohne falsche Nobilitierung. Schlicht und einfach Katastrophe. Nichts, das man neben dem Wort noch erklären müsste. Kein Opfertod, über den man grübeln müsste. Und keine Bedeutung.“
Rothenberg sprach bei einem Vortrag davon, die Ereignisse des zweiten Weltkriegs seien ihm der erste Anlass zum Schreiben gewesen, sein Projekt beschränkt sich jedoch nicht darauf. Er gilt als Begründer der Ethnopoetik: Bis Ende der 1960er Jahren ging es ihm dabei vor allem um die oralen Traditionen indigener Völker, ihrer Poesie, ihrer Erzählungen. Rothenberg fungierte als Verleger, Herausgeber, Übersetzer. Ein wichtiges Resultat dieses interdisziplinären Vorhabens war die 1968 erschienene Anthologie Technicians oft the Sacred. Seine eigenen poetischen Arbeiten haben zwar einen sehr ausgeprägten spracharchäologischen, -anthropologischen, Charakter, sind jedoch keine akademischen Labor-Ergüsse: Sie stemmen sich mit aller Kraft gegen das Vergessen. Rothenberg begreift Poesie auch als einen „Ruf zur Wachsamkeit“.
Aus seiner „tiefen Entfremdung gegenüber den USA“ zu Zeiten des Vietnam-Kriegs, gewann für Rothenberg seine eigene Herkunft immer mehr an Relevanz. In den 70er Jahren trat in seinem Buch Poland/ 1931 oder durch die Anthologie A Big Jewish Book das Schicksal der Juden in den Mittelpunkt seines Schaffens, Khurbn entstand während seiner ersten Reise nach Polen. Der Band liegt nun, 28 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen, in einer sehr guten deutschen Übersetzung (wie die Zitate zeigen werden) von Barbara Felicitas Tax und Norbert Lange vor, veröffentlicht im Verlag Das Wunderhorn. Und das Gedicht gleicht einer Höllenfahrt. Nach einer eindringlichen poetologischen Reflexion über „Khurbn“ als das „Kinderwort/ gesprochen rotäugig/ auf dem gefrorenen Teich// (…) dies uralte & dunkle Wort“ folgen wir dem Text - denn eine robuste, souveräne Sprechinstanz gibt es in dieser Assemblage nicht - durch eine verlassene, leblose Gegend mit ungenutzten Straßen und leeren Häusern. „Auf der Honigstraße in Ostrowo/ Wo sind die Honigleute hingegangen?“ Aus der kargen polnischen Landschaft, die Rothenberg bereiste, kriecht dann aber immer schneller das Grauen der Vergangenheit empor. Ein Gedicht spricht in wenigen Zeilen vom Schicksal eines Onkels Rothenbergs, dessen Familie getötet wurde, und der sich gegen die „Lebensbürde“ des Überlebenden in den Tod trank. Unter der jiddischen Überschrift „Der Viderstand“ liest man:
„Er sagt ich will dir erklären
was mein name ist mein Name ist begraben
in der Asche mein Name
ist kein Name“
Aber aus dieser Feststellung darf keine Sprachlosigkeit, kein Schweigen werden. Stattdessen gräbt sich das Gedicht immer tiefer in die Geschichte des namenlosen Schreckens, schildert aufs Äußerste die Gewalt die den zerstörten Körpern widerfuhr. Felder zerlegter, verstümmelter Leiber werden schonungslos beschrieben. Max Biela tritt auf, der SS-Mann in Treblinka, der sich jüdische Jungs als Lustknaben hält. Ein Abschnitt ist benannt nach den Dibbuks, den „Geister(n) derjenigen, die vor ihrer Zeit gestorben sind und nun in die Körper der Lebenden einfahren“, wie das hilfreiche, kurze Glossar erläutert. Zuvor geht es um einen Gilgul, einen vom Dibbuk Besessenen, der in einer „Welt aus Nägeln“ verloren ist.
Immer wieder pocht der Text gegen seine fixierte Schriftlichkeit, die mal wenige Silben kurzen, mal die Zeilen sprengenden Verse, werden immer wieder durch Leerstellen unterbrochen, eingerissen, die wie ein Herunterschlucken, ein Atemanhalten in den Text fahren. Ständig ist vom Schrei, der gelesen immer ausbleiben muss, die Rede. Es ist, als ob die Gedichte eine Vorbereitung auf ihn darstellen, als ob die drastischen Szenen, die Fülle des historischen und biographischen Materials, die poetologischen Reflexionen nur auf ihn zielen. So wie es in „Di Toyte Kloles (Die Verwünschungen)“ steht:
„Lasst ihn sagen dass er schlagen & töten schlagen & töten schlagen & töten will lasst ihn sagen dass es nichts nichts nichts ist
Dass er in einer Wildnis lebt (lasst ihn das sagen) dass es dort aber keine Wälder keine Bäume gibt
Dass welche Häuser hier auch einmal waren sie verschwunden sind oder wenn Häuser da sind er sie wieder betreten noch sehen kann
(…)
Lasst ein Bild mit jedem Schrei entstehen“
Der stumme Schrei, der sich einer Zeile auftut, in der „die Haufen Kleider“ und „Juden“ nur durch eine Leerstelle getrennt sind, trifft auf das Gekreische, das man sich ausmalt, wenn „eine Runde Erschießen Erhängen Vergasen Verbrennen“ gefordert wird (an dieser Stelle vermittelt die deutsche Übersetzung noch intensiver als das Original die Perfidie des Geschehens). Rothenberg weiß wohl selbst ganz genau, dass es anmaßend ist, ein Gedicht über den Holocaust, die Shoah, Khurbn, Auschwitz, Treblinka als „gelungen“ zu bezeichnen. Was hier daraus zitiert wurde spricht für sich, für das Gedicht, gegen das Vergessen.
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