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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„Wie kann ich sprechen für eine Geisterstadt?“

Jerome Rothenbergs „Polen/ 1931“ sind Geschichtsgedichte ohne Muff
Hamburg

Wenn man die Geschichte nur studiert, um sich zu den Toten zu zählen, lässt man’s besser. Wer der Geschichte im Gedicht Platz macht, steht vor der schwierigen Aufgabe, nicht maßlos zu aktualisieren, um zu behaupten, heute sei genau wie früher. Genauso wenig kann es aber darum gehen, mithilfe lyrischer Mittel etwas endgültig ad acta zu legen, in ein starres Sinnbild zu verwandeln. Stattdessen kann es dem Gedicht gelingen, das Lebendige einer vergangenen Zeit zu bewahren, erfahrbar zu machen, letztlich in einer gut recherchierten Spekulation. Es wirbelt den Staub auf, der sonst auf dem ansetzt, was dem Vergessen anheimgegeben werden soll, damit die Gegenwart stabiler wird. Vielleicht gelingt das am besten, wenn sich das Gedicht nicht auf Tage und Taten stürzt, sondern einer Stimmung nachspürt, die an einer Zeit durch Zeugnisse haftet, und die man gegen den Muff der Gegenwart ins Feld führt.

Einer der verdienstvollsten Dichter, der sich der Herausforderung angenommen hat, über Historisches zu schreiben, ohne dabei zu musealisieren, heißt Jerome Rothenberg. Geboren 1931 in New York als Kind polnisch-jüdischer Einwanderer, Soldat im Zweiten Weltkrieg, eine Zeitlang stationiert in Mainz. Bekannt ist Rothenberg als Begründer der Ethnopoetics. Darunter ist kein fröhliches, dem Westen gerechtes Potpourri an lustigen Exotismen zu verstehen, sondern eine komplexe historisch-anthropologische Auseinandersetzung mit Lebenswelten, literarischen, oralen Traditionen und spirituellen Werken, die drohen, zu verschwinden. Einige Bekanntheit erlangte Rothenberg zuerst 1968 durch die Herausgabe des Buchs „Technicians oft the Sacred“, in dem spirituelle Zeugnisse von Ureinwohnern verschiedener Kontinente versammelt waren. Das Schicksal der polnischen Juden, seiner Vorfahren, bestimmt den Teil seines Werks, der dank seinem Übersetzer Norbert Lange auch im deutschsprachigen Raum immer mehr Leser finden kann. Nachdem das Gedicht „Khurbn“ — das jiddische Wort für die Shoa — vor zwei Jahren erschien, hat Norbert Lange nun mit „Polen/ 1931“ eine umfangreichere Publikation Rothenbergs 45 Jahre nach Erscheinen des amerikanischen Originals ins Deutsche übersetzt.

„O entehrte Schar, du/ spiele die Harfe & singe vor den alten Gebeinen, / dass Verständnis nicht zugrunde gehe.“ Diese Zeilen des jüdisch-amerikanischen Schriftstellers Edward Dahlberg sind dem Buch vorangestellt und beschreiben das Vorhaben. Was folgt sind jedoch Spottgebete, gestaffelte Verbote, himmelschreiende Klagen gegen Gott, die Welt und die Verwandtschaft. Penible Listengedichte und Rezepte finden sich und Verse, die vom Alltag erzählen, vom leidigen. Das erste Gedicht beschwört eine Hochzeit herauf:

„Mein Geist ist gestopft mit Tischtüchern
& mit Ringen doch mein Geist
träumt sich nach Polen gestopft mit Polen
dorthin gebracht in der Vorstellung
zu einer schwarzen Hochzeit
ein nackter Bräutigam schwebend über
seiner nackten Braut     irres Polen“
(…)

„Polen Polen Polen Polen Polen“ ruft es zweimal im Gedicht und klingt wie der Versuch einer Steigerung, die schon wieder in Monotonie umbricht, einer Anrufung, die nichts zu sagen weiß. Brüdern, Vätern, Müttern und Großmüttern werden Gedichte gewidmet. Dabei werden die engen Verhältnisse deutlich, in denen für den Einzelnen oft kein Platz ist, alles vorbestimmt wirkt.

Sie standen zusammen am Fenster weinend
Aus ihren Mündern
Brüder haben Namen um ihre Schuhe auseinanderzuhalten
Keinen eigenen          sie waren alt schon immer   

Aber gerade da hier nichts verklärt wird, nichts Possierlich-Idyllisches aufgefahren, entwickelt das Buch mit vielen kurzen Gedichten, in denen immer wieder deutlich wird, dass hier an Schicksalen von Menschen geschrappt wird, die liebten wie litten. Das Leben der polnischen Juden, von denen hier Zeugnis gegebenen wird, scheint oft von Religion überlastet. In der Gemeinschaft sind Rollen zwar auf den ersten Blick klar verteilt, aber niemand geht in seiner Funktion vollends auf. Ein Gedicht berichtet vom Schächter, erzählt, wie „das versehrte Kalb er schabt/ den Schorf von dessen Augen/ wird zum Fleischgott/ brüllt im Namen des Tieres & anderer/ nie gekosteter Gewalten dieser Erde“ und sich im rituellen Vorgang sich alles andere als devote Gottesfurcht entwickelt. „Der Rabbi reißt sich den Arsch auf für dein Heil“ heißt es einmal. Zweifellos geht es in „Polen/ 1931“ um die Last, die auf einer Gemeinschaft, die oft in Not lebt, fast ständig bedroht wird. Aber Rothenberg belädt nicht mit Bedeutung, stopft die Gedichte nicht mit Wissen voll, sondern erreicht in vielen der Texte eine eigentümliche Lockerung zwischen Tod und Teufel und viel heiliger Scheiße. Seine Sprache ist ein durch die Geschichte gewonnenes Parlando ohne Redseligkeit, das immer wieder am hohen Ton kratzt, etwas Elegisches gewinnt, um dann wiederum durch die Derbheit, Brutalität, explizite Sexualität, die beschrieben wird, jede Form von Sermon-Imitat verhindert.    

 „Polen/ 1931“ ist in acht Abschnitte unterteilt. Da gibt es das „Buch der Zeugnisse“ und das „Buch der Geschichten“, aber auch „Esther K. kommt nach Amerika“, denn Rothenberg folgt den Leben polnischer bzw. polnischstämmiger Jüdinnen und Juden vom galizischen Schtetl bis in die Metropolen und Wüsten der USA, dem Land der Träume, der Zuflucht wie der Desillusionierung. Im letzten Teil des Buchs, „Cokboy“, trifft ein Vertreter des ewigen Volks, das zur Diaspora gezwungen war, auf die in Reservate gedrängten amerikanischen Ureinwohner: „kam ich/ sattelwund/ ein Jude unter/ die Indianer“. Und auf Jiddisch fragt er sich: „wos makh ikh do/ an dem verrikter ort/ bei al di lajtn mit verrickter ojgn“. Aber die Begegnung scheint gut zu gehen, man spielt Karten und „Sie kloppen Wölfe & Schafe/ Das Feuer zischt im Prpetchik/ In einem großen Zelt irgendwo in Amerika/ Naht die Geschichte des zum Vorschein Kommens“. Aber die Offenbarung kann im Gedicht selbst natürlich nicht eintreten, nicht dargestellt werden. Und so geht seine Geschichte weiter und Rothenbergs Buch schließt lapidar mit „war Stille in Amerika/ hab mehr wohl nicht zu sagen“. Zuvor aber hat er eine Welt vorm Verschweigen gerettet.

Jerome Rothenberg
Polen/1931
Übersetzung: Norbert Lange
roughbooks
2019 · 232 Seiten · 14,00 Euro

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