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Kritik

Ich bin noch immer nicht zufrieden, aber es fällt mir auch nichts besseres ein

Hamburg

Die Themenhefte der neuen Akzente von Jo Lendle mit Gastherausgeber gemeinsam editiert sind eine schöne Errungenschaft, die natürlich mit eben jenen zwei Variablen stehen und fallen, im Gegensatz zu jenem alten Konzept des gegenwärtigen Überblicks über die Literaturlandschaft, der sich pro Ausgabe in jene Gruppen teilte. Das aktuelle Thema Nachdichten hat eine fundamentale Relevanz. Anders als persönlich ausgelegte Schlagworte wie Witz, Angst etc. geht Nachdichten in einen Bereich oder tangiert die Frage eines jeden Übersetzens, die in der heutigen Zeit einer global operierenden Literaturwelt in allgegenwärtiger Spannung von gemeinsam zueinander wachsenden Sprachen, Sprachentransfers, Angriff der Neologismen und andererseits Kultivierung der von wenigen Sprechern gesprochenen/ geschriebenen Sprachen, Bewahrung eines Spracherbes mehr denn je hohe und vermutlich noch zunehmende Relevanz besitzt. Ko-Herausgeber ist kein geringerer als Jan Wagner, seines Zeichens nicht nur frischer Laureat jenes "höchsten" deutschen Literaturpreises zu Ehren Georg Büchners und einer der zu Lebzeiten meistausgezeichneten deutschsprachigen Autoren überhaupt, sondern besonders auch ein als Übersetzer tätiger Sprachartist (Sweeney, Simic, Tate etc. um nur einige zu nennen).

Aufgabe im Nachdichten war nun an eine Handvoll ausgewählte ÜbersetzerInnen, die allesamt auch gleichzeitig erfolgreiche AutorInnen sind (was ja beim Thema Nachdichten sich theoretisch aus dem Wort schon ergibt – wohl aber auch die Gegenposition hätte einschließen können, gibt es sie (?), lediglich nur als Übersetzer tätig zu sein, ohne eigenes Autorensein. Was wäre unter Nachdichten in diesem Fall zu verstehen?), sich anhand eines selbstgewählten Beispiels zu äußern, worin ihrer Meinung nach die Probleme, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer Übersetzung ("mit gestresster erster Silbe" wie Uljana Wolf vergnüglich anbringt, wenn auch auf ihren speziellen Fall eines traurigen Konzepts bezogen) bestehen. Die 14 NachdichterInnen wählen, jeder auf ihre Weise, interessante Beispiele, umschreiben mit einigen Notaten und Aufzeichnungen zu entweder ihrer eigenen ÜbersetzerInnenpoetik oder derjenigen ihrer BeispielautorInnen, die Umstände der Ergebnisfindung und zeigen nicht nur das Original, sondern immer auch die Zwischenversion, die harte Wort-für-Wort-Übertragung, auch als Interlinearübersetzung bekannt, und schließlich die quasi freigegebene Endfassung. Letztere kann immer noch von Zweifeln durchzogen sein und ist oft viel besser verständlich durch diesen quasi evolutionären Einblick in die Übersetzerwerkstatt zuvor.

"Was nicht selbst Poesie ist, kann nicht Übersetzung von Poesie sein."

Von Enzensberger einst geäußert, schwebt als geheimes Motto über dem Band. Joachim Sartorius spricht es gegen Ende seines Beitrages aus, und das ist letztlich der Kernpunkt aller hier vertretenen Ansätze. Jede Entscheidung ist eine Entscheidung aus poetischen Überlegungen heraus. Ganz gleich, welche Mittel priorisiert werden, niemand der NachdichterInnen entscheidet nach einer "einfachen" Gebrauchstext-Variante, die den Inhalt an Nummer eins setzt.

Zu den BeiträgerInnen:

Mirko Bonné gibt einen Einblick in mehrere Übersetzungserlebnisse seines Lebens, u.a. zwei extrem schwere, für ihn unmöglich verlustfrei zu übertragene (Kurz)poeme von Emily Dickinson

"Least rivers – docile to some sea.
My Caspian – thee."

und Ghérasim Luca

"gREVE GENERALe
sans fin ni commencement

LA POESIE
SANS LANGUE
LA REVOLUTION
SANS PERSONNE
L'AMOUR
SANS
FIN"

Lea Schneider zeigt anhand eines Gedichts des chinesischen Lyrikers von Sun Wenbo gleich mehrere kaum aufzulösende Probleme auf, die nicht nur mit der Zensur im chinesischen Literaturbetrieb zu tun haben, sondern ganz grundsätzlich mit der völligen Andersartigkeit der chinesischen Sprache in Ausdrucksvermögen und Sprechenskomplexität.

"Es dürfte kaum eine Sprache geben, die ihre différance, ihr semantisches Gleiten, so stark an der Oberfläche trägt wie das Chinesische. So gut wie kein chinesisches Zeichen hat ohne Kontext eine eindeutige Bedeutung. Denn hinter den meisten Schriftzeichen steckt eben kein Wort, sondern ein Konzept – ein Feld von Bedeutungen, durch das im Gedicht, wo der Kontext wegverdichtet wird, eine großartige Polyvalenz entsteht."

Dennoch kommt Schneider zu einer optimistischen Fassung von Sun Wenbos Gedicht einförmiges leben, unförmiges gedicht.

Odile Kennel arbeitet sich an einer Champagnerode von Jacques Darras ab, die ein hohes Maß an Ironien und Wortwitz beinhaltet, das aber wohl nur für deutsche Gemüter:

"Allenfalls war ich erstaunt, als man mir vor einigen Jahren eine Neigung zum Kalauern in meinen Gedichten attestierte. In meinem deutsch-französischen Bewusstsein kalauere ich nicht, sondern neige dazu, das Wort beim Wort zu nehmen."

Norbert Hummelt berichtet von einer Reise zu Pferde des von ihm bisher kaum übersetzten Robert Browning, die sich durch equestrisches Fachvokabuler kontra galoppierendem 19.Jhd.-Rhythmus auszeichnet bzw. selbst erschwert und den Freuden an jenen Hindernissen einer einfach zu gelingenden Übertragung.

Hendrik Jackson überträgt Marina Zwetajewa und begründet seinen sprachlichen update-Transfer:

"das Gedicht über die Zeitungsleser schrie geradezu nach einer äquivalenten Übertragung in die Gegenwart."

Aus den öffentlich-abwesenden Zeitungslesern sind die Smartfonglotzer geworden.

Ulf Stolterfohts Begegnung mit einem abgedrehten Gedicht Ed Dorns über die Pietistenbewegung hatte ihn beinahe davon abgehalten, nach Jahren mühsamer Recherche für Neu-Jerusalem, das Langgedicht überhaupt zu schreiben, da ja Ed Dorn in seinem frisch entdeckten Gedicht zu selbigen bereits alles gesagt habe. Stolterfohts Lösung war, Ed Dorns Gedicht als Transplantation (Nachdichtung im Stolterfoht-Schema) direkt in Neu-Jerusalem zu verpflanzen.

"Und siehe, es war gut."

Dagmara Kraus arbeitet sich an einer extrem heftigen Lyrik ab: eine Anagrammsestine von Frédéric Forte. Ihre Überlegungen im begleitenden Essay sind komplex und schwer nachzuvollziehen und trotzdem münden sie in eine wundersame Übertragung, deren permutative Formelhaftigkeit ihr nicht anzusehen ist.  Ron Winkler verzichtet auf die Erläuterung und dichtet stattdessen selbst einen Brevier als Kontext zu seiner Übertragung von Sandra Beasley. Der Punkt Kontext wird bei Ernest Wichner ebenfalls in den Mittelpunkt gerückt: Er überträgt Benjamin Fundoianu, der als Spätromantiker in einem rumänischen Dorf zunächst verklärend übersetzt worden ist, der aber, mit dem kontextuellen Wissen von heute/ der weiteren Forschung um den Aufbau eines solchen erhellenden Wissen eine völlige Neubewertung seiner bisherigen Gedichtübertragungen erfahren soll. Wichner arbeitet mit sprachlichen Horizonten und macht klar, warum Fundoianu zwar die Sprache seiner Zeit genutzt hat, bei seinem biografischen Hintergrund, aber unmöglich sie in demselben Selbstverständnis wie ein Bukarester Bohemien derselben Zeit verwendet haben dürfte. Ilma Rakusa verbeugt sich vor Zwetajewas äußerster Verknappung und rhythmischer Präzision und anders als Jackson bemüht sie sich nicht um ein update, sondern versucht eine Übersetzung, die sich aus dem Verständnis von der russischen Lyrikerin als Musikerin und ihrem daraus resultierenden musischen Ansatz in der Verwendung von Sprache speist. Uljana Wolf scheitert absichtlich an einer beauftragten Übertragung eines Gedichtausschnittes von NourbeSe Philip aus dem Zyklus Zong!. Sie zeigt eine interlineare Skizze und erläutert, warum das Konzept von Plilips Lyrik über eine deprimierende historische Episode aus der Sklavenzeit des 19.Jh nicht übertragbar sein sollte in einem herkömmlichen Sinne. Ulrike Draesner übersetzt ein Gedicht von Jo Shapcott und erläutert sämtliche Zweifel und Schritte. Ihre Ansätze sind besonders auf Vokalität, Silbenzahl und Lesegeschwindigkeit ausgelegt und ihre Übertragung gegen Ende ist äußerst gelungen. Vielleicht der schönste Beitrag im Heft. Den Abschluss macht eine Kooperation von Steffen Popp und Alexander Filyuta über Dmitry Golynkos Sprachhybrid aus unzähligen Sprachhorizonten, der einem ohne Kenntnis der russischen Kultur und Lebensweise kaum Zugang gewähren könnte, außer durch die gutgängige, phantasievolle Adaption Popps und den erläuternden Kommentaren Filyutas.

Insgesamt ist das Themenheft Nachdichten ein sehr gelungener Vertreter seiner Art. Die Beispiele sind durchweg gut gewählt im Sinne einer wirklichen Horizonterweiterung und ihrem hohen Informationsgehalt. Man mag nicht alle Argumentationen abnicken, aber nachvollziehen kann man sie aufgrund ihrer mehr oder weniger durchgehenden Offenlegung sehr wohl. Ein erhellender Blick in die Werkstatt von KönnerInnen.

Jo Lendle (Hg.) · Jan Wagner (Hg.)
Akzente 2 / 2017 Nachdichten
Hanser Verlage
2017 · 96 Seiten · 9,60 Euro

Fixpoetry 2017
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