Salzburg, 10. Dezember
Wie dem Alltag beikommen, dem, was nicht aus der Menge der Tage herausragt, aber das Herausragende vielleicht antizipiert – und jedenfalls quantitativ mehr vom Leben ausmacht, als all das, worum sich Narrative eher ranken?
Die Akzente, die seit 1953 bestehend regelmäßig, in diesem Sinne fast alltäglich, aufs Verdienstvollste Literatur ermöglichen, zur Disposition stellen und verbreiten, widmen sich dem Alltag, wobei Jo Lendle sich als Mitherausgeber Raoul Schrott wählte, das „Tiroler Schelmchen”, wie ihn ein Berliner Altphilologe vor ein paar Jahren liebevoll nannte.
Das Ergebnis ist spannend, aus dem Unspannenden wird eben, was genau nicht langweilt: Der Mensch „muss sich der Langeweile aussetzen, wenn er etwas zuwege bringen möchte, das […] nicht […] langweilt”, schreibt Gauß, der denn auch hier einen wunderbaren Beitrag liefert, ferner Mayröcker mit ihren assoziativ-fragil-kohärenten Gespinstwunderwerken, Jan Koneffke mit einer melancholischen Bilanz, Durs Grünbein zum „koordinierte(n) Herzschlag”, Anne Weber, Nora Gomringer, deren Alltäglichstes offenbar noch explosive Textlust ist: „Frag den Astronauten nach Alltag!”, alles ist ja „ständige Wandlung”, eine Fahrt im nicht ganz kalauerfreien „Syntaxi”, und der leider im letzten Jahr verstorbene Luc Bondy, dessen Spannungen zwischen Hoffen und Erleben einerseits und andererseits der Welt als dem Material dieses Hoffens und Erlebens wunderschön entwickelt und berührend sind:
„Meine Gedanken sind grün
Die Welt ist schwarz beinahe”…
Das Grauen, das aus dem Beiläufigen einer Radiosendung sich ergibt, sei aus Gauß’ Alltag, nämlich dem Text „Salzburg, 10. Dezember” noch zitiert:
„Spätabends höre ich im Radio eine Sendung, in der eine ältliche Tochter über ihren vor Jahrzehnten verstorbenen Vater sagt: »Er wollte immer helfen, unterstützen und so weiter.« Schreckliche Vorstellung, dass womöglich auch mir so ein Nachleben im Undsoweiter beschieden sein könnte.”
Ich las diese Passage vormittags, sie könnte dennoch in Alpträumen nachhallen. Alltag – wer ihn hat, und wer hätte ihn nicht, der muß schon dieses Textes wegen, aber nicht nur darum, die aktuelle Akzente-Nummer lesen.
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