Der Menschenfreund
Es ist erstaunlich, daß sich ein eher unauffälliger und bescheidener Klassiker wie Johann Peter Hebel bis heute einer anhaltenden Beliebtheit erfreut, nicht weniger erstaunlich als die Tatsache, daß bislang keine vollständige kritische Ausgabe seiner Werke vorliegt. Man denkt sofort mit Erschrecken daran, wieviele bedeutende Klassiker aus offensichtlich rein finanziellen Gründen auf eine solche Edition bisher überhaupt verzichten mußten, und stellt sich grausend vor, welche Desiderata dann in der Zukunft für etliche unserer gegenwärtigen Schriftsteller wahrscheinlich aufklaffen werden. Der Göttinger Wallstein Verlag hat Johann Peter Hebel nun zumindest eine kommentierte Lese-Ausgabe seiner sämtlichen Werke und Briefe mit einem verläßlichen Wortlaut (und in Originalorthographie!) zu einem mehr als attraktiven Preis gegönnt. Mit Ausnahme der Predigten, Rätsel und Scharaden, bei denen nach Ansicht der Herausgeber nicht nachweisbar ist, daß Hebel »im Sinne einer Autorisierung beteiligt war«, enthalten die sechs Bände die umfangreichste Publikation seiner überlieferten Texte –: und das allein ist Grund genug, wieder einmal an diesen wundersamen Autor zu erinnern.
Der Klassiker eine olympisch enthobene Gestalt? Keineswegs. Johann Peter Hebel muß ein in vieler Hinsicht sympathischer, umgänglicher, humorvoller Mensch gewesen sein, folgt man den neueren und noch immer unbedingt empfehlenswerten Biographien von Heide Helwig und Bernhard Viel, die beide zum 250. Geburtstag des Dichters im Jahre 2010 erschienen sind, aber sicherlich war er eines nicht: bloß ein schlichter, biederer, vom Katheder herunter moralisierender Schulmeister und Theologe. Das zeigt sich schon früh, in den ersten erhaltenen Versen, denn niemand, dem humorige Selbstkritik nichts bedeutet, würde seinem Schulfreund beim Abschied die folgenden drolligen und doch tiefmelancholischen Zeilen ins Stammbuch schreiben:
Ich bin hier in der Fremde
Und habe nur ein Hemde
Wenn das zur Wäsche springt
So lieg ich in dem Bette
Wie Phylax an der Kette
Bis man mirs wider bringt
Das sind natürlich keine für die Ewigkeit oder auch nur einen größeren Leserzirkel gedachten Zeilen, aber sie werfen ein erhellendes Licht auf den Autor, damals achtzehn Jahre alt, ein Vollwaise, finanziell teilweise von Gönnern abhängig, die seine Laufbahn als Theologe befördern wollten und zuletzt enttäuscht wurden, weil Hebel nichts weniger wollte als ein Pfarramt, auch wenn er sich dies später als Idyll imaginierte. Erstaunlich allemal, mit welch renitentem Selbstbewußtsein der junge Mann seine Karriere in Richtung eines Schulamts zu lenken wußte. Selbst als Leiter des Gymnasium illustre in Karlsruhe blieb ihm der Witz nicht im Halse stecken, wie das ganz auf die Praxis der lateinischen Übersetzung ausgerichtete »Stilbuch« beweist, in dem sich neben Belehrung, Sprichworten, wissenswerten Fakten zuweilen eine sprachlich surreale Groteske findet:
Es wird manchem Menschen leichter, ein schweres Unglück zu ertragen als ein leichtes. Hättest du das Licht nicht ausgelöscht, so wäre deine Schrift nicht ausgelöscht worden. Sieben ist eine ungleiche, aber eine heilige Zahl. Eins dazu oder davon, wird’s gleich. Gleich und gleich gesellt sich gern. Gleiche Brüder, gleiche Kappen. Wer kann alle Berge gleichmachen? Die Sonne geht auf, das Gras geht auf, die Türe geht auf, das Geschwür geht auf. Sechzig Kreuzer gehen auf den Gulden. In manchem Hause gehen alle Tauge 60 fl. [Florin] auf. Alten Leuten behagt alter Wein. Künftigen Herbst werde ich dich in den Herbst einladen.
Ein bedeutendes Werk braucht nicht unbedingt den Input mondäner Umtriebe, es entsteht genauso, und oft noch besser, in räumlichen Beschränkungen. Hebel betrachtete der Weltweite allerdings weder gleichgültig noch interesselos, wie seine Exzerpthefte und das posthume Verzeichnis seiner Bibliothek zeigen, selbst hat er aber die Gegend zwischen Karlsruhe und Basel nicht überschritten, im Gegensatz übrigens zu seinem herumgekommenen Vater, und sich eher in der Kunst der philosophischen Kopffahrten geübt.
Wo der Dengle-Geist in mitternächtige Stunde
uffem silberne Gschir e goldeni Sägese denglet,
beginnt das Gedicht »Die Wiese«, bei der es sich nicht um ein Rasenstück, sondern um einen Fluß handelt. Es stellt nicht nur ein wichtiges Beispiel für die Belebung des Dialekts als Literatursprache dar, sondern ist auch typisch für die genaue Beschreibung und Beobachtung des Autors, der sich hier das Muster des Bildungs- und Entwicklungsromans der Goethezeit zunutze macht und auf den Fluß überträgt, verdichtet zu einer Großmetapher auf die Welt als Gottes Schöpfung, betrachtet unter dem genauen Blick des beobachtenden Naturforschers. Denn Geographie und Geologie gehörten zu seinen Steckenpferden wie die alten Sprachen – aber am intensivsten hat Hebel die Menschen studiert (und durchschaut).
Die kleinen Prosastücke für den »Rheinländischen Hausfreund« dringen ins weltliche Getümmel, entlarven die Triebe, Illusionen, falschen Begierden und Hoffnungen, ohne sich über die Gefühle der Menschen lustig zu machen. Ja, sie sind menschenfreundlich, vielleicht auch gerade deshalb, weil sie niemanden schonen. Hebel versteht es, für den einfachen Leser zu schreiben, doch ist die Prosa deshalb noch lange nicht schlicht, im Gegenteil, die skizzenhaften Striche enthüllen eine bestürzende Abgründigkeit, regen wegen ihrer Doppel- und Dreifachbödigkeit zum kritischen, aufklärerischen Nachdenken an. Man kann hier sicherlich auch Hebels pädagogischen Eifer am Werk sehen, mehr noch aber den Gemmenschleifer äußerst aparter Kurzprosa. Dabei verdanken sich die Beiträge zum »Rheinländischen Hausfreund« – der schlicht »Badischer Landkalender« hieß, ehe Hebel aufgezwungenermaßen die Redaktion übernahm – gar keinem primären inneren Antrieb, sondern entstanden aus der Notwendigkeit, den Kalender zu füllen (und die Zensurinstanzen nicht allzu sehr in Rage zu versetzen). Äußere Zwänge, wenn sie auf eine vorhandene innere Disposition treffen, sind offenbar manchmal bessere Motoren als das eruptive Bedürfnis nach Selbstäußerung.
Obwohl theologisch versiert, war Johann Peter Hebel ein Aufklärer und kritischer Geist ganz eigener Art. Die Wahrheit hatte Priorität und war oberstes Ziel, doch sie galt nur solange, bis sie durch eine andere oder bessere Wahrheit ersetzt werden mußte. Auch Hebels Lektionen in Toleranz und Menschenliebe sind nicht mit der Zeit gealtert, sie wirken noch immer frisch, als sei es ihm gelungen, seine Feder in den Brunnen der ewigen Gültigkeit zu tauchen. Freilich ist Hebel kein politischer Feuerkopf, der nach Umsturz giert, ihm ist mehr nach Ausgleich und Friedfertigkeit zumute, notfalls auch um den Preis persönlicher Nachteile, was ihm manche Zeitgenossen verübelt haben. Hebel provoziert nicht willentlich, sein Mittel ist die Politik der kleinen Schritte, der Veränderung von Innen heraus.
Mitleid mit den vom Schicksal körperlich und geistig Benachteiligten und ironische Aufdeckung der menschlichen Schwächen sind die Schwerpunkte der Kalendergeschichten für den »Rheinländischen Hausfreund«, Trost und Anleitung für ein größeres Publikum, aber eben auch literarische Meisterwerke im Kleinformat. Sie zeigen, wie man aus Alltagsbanalitäten mittels Sprache philosophische Gedanken über die condicio humana mit Tiefgang zimmert. Bieder oder naiv sind diese Erzählungen allemal nicht, man denke an die »gräuliche Geschichte«, die »durch einen gemeinen MetzgerHund ist an das Tageslicht gebracht worden«, wo nicht nur besagter Metzger gewaltsam zu Tode kommt, sondern auch das eigene Kind, das Zeuge des Mordes wurde, dem Profitstreben geopfert wird, eine Story, die an schmutzigem Realismus und Brutalität sicherlich ihresgleichen in der Literatur (nicht nur der damaligen Epoche) sucht.
Neben allerhand faktischen Belehrungen über das »Weltgebäude« ist der »Hausfreund« bemüht, auch in religiösen Angelegenheiten ein tolerantes, aufgeklärtes Weltbild zu verbreiten. Der Prophet Mahomed ist in der gleichnamigen Geschichte »sanftmüthig« und lehrt durch sein Beispiel – er geht zum Berg, der nicht zu ihm kommt –, daß man nicht auf Wunder hoffen, sondern selbst tätig werden soll. Und immer wird in den unruhigen Zeitläuften die Flüchtigkeit und Endlichkeit einer sich erneuernden Natur thematisiert, die sich »zu einem großen unbekannten Ziel« entwickelt. Die kurze Skizze »Die Ruine« aus dem Jahr 1811 z.B. ist in ihrem fragmentarischen Charakter überaus poetisch; sie schließt mit den apokalyptischen Ausmaßen einnehmenden Vanitas-Zeile:
Auch die Erde wird einst Ruine seyn unter den Sternen. Der Mond ists vielleicht schon.
Die beiden Briefbände, die der Ausgabe von Wilhelm Zentner folgen, sind nicht nur eine Beigabe zum ›eigentlichen‹ Werk, sie sind Bestandteil, ergänzen und erläutern es zugleich. So wird die philologische Neugier in Hinsicht auf die Entstehung der Texte und deren biographische Umstände ebenso bedient wie die anekdotische Leselust. Man kann sich das Vergnügen vorstellen, mit dem die jeweiligen Empfänger diese Briefe gelesen und vielleicht auch im Freundes- und Familienkreis vorgelesen haben, denn Hebel hat nicht mit launigen Anekdoten und lustigen Beschreibungen gespart. Allerdings muß man oft schon sehr genau lesen, etwa wenn Hebel nach einem Rezitationsabend mit der gefeierten Schauspielerin Henriette Hendel so aufgeregt ist, daß er beim Rauchen eine Balkontür mit dem Fenster verwechselt und beinahe hinausstürzt – abgehandelt wird das in wenigen Sätzen, doch die Frage, ob erotische Verwirrung oder der unbewußte Wunsch nach Flucht aus der Abendgesellschaft die Ursache sind, beschäftigt den Leser noch lange.
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