„Das Hauptgeschäft zu Stande gebracht“
Unübersehbare Scharen von Schülern und Studenten haben sich mit Goethes Faust-Tragödie beschäftigt – für den Fall, daß sie ihnen nahegebracht werden konnte, durchaus auch „mit heißem Bemühn“. Was ihnen bislang nicht zur Verfügung stand, war eine Ausgabe mit wirklich gesichertem Wortlaut. Natürlich sind nicht sämtliche früheren Ausgaben textlich dermaßen verderbt, daß sie unbrauchbar wären. Doch kommt es bei einer Großdichtung – um die es sich nun einmal handelt, unabhängig davon, ob man Goethe als Menschen und Autor insgesamt schätzt oder nicht – am Ende auf jedes Wort und jedes Komma an. Die jetzt als „konstituierter Text“ im Rahmen einer historisch-kritischen Faustedition edierte Fassung soll, nach dem Bekunden der Herausgeber, „den letzten autornahen Textzustand, der sich erreichen lässt, in emendierter Form“ wiedergeben.
Es ist ja ein unerhörtes Buch, das aus dem tradierten Fauststoff eine metaphysische Höllen- und Himmelsfahrt macht. Höchste existentielle Fragen werden dabei ebenso wenig ausgespart wie zotige Kommentare zum Weltgeschehen. Man lese als Beispiel nur diese schnurrige Episode: Der Berliner Buchhändler und Schriftsteller Friedrich Nicolai litt im Frühjahr 1791 an einer Störung, in deren Verlauf er Geisterscheinungen sah. Davon kurierte er sich mit am Gesäß angesetzten Blutegeln und berichtete über seine guten Erfolge mit dieser damals nicht völlig kuriosen Methode. Das Gespött der Zeitgenossen war dennoch groß, Goethe etwa ließ Nicolai in der Walpurgisnacht im ersten Teil des Faust als „Proktophantasmist“ (also: Arschgeisterseher) auftreten:
Ihr seyd noch immer da! nein das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug und dennoch spukt’s in Tegel.
Wie lange hab’ ich nicht am Wahn hinausgekehrt
Und nie wird’s rein, das ist doch unerhört!
Worauf Mephistopheles in der ihm eigenen Galligkeit kontert:
Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art wie er sich soulagirt,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergötzen,
Ist er von Geistern und von Geist kurirt.
Diese kleine Abschweifung soll ein wenig Appetit machen, sich das Werk wieder einmal vorzunehmen und zu Gemüte zu führen. Die neue Edition ist dafür unentbehrlich, und zwar nicht nur für Germanisten. Vieles ließ sich freilich schon damals aus dem Apparat der Weimarer Sophien-Ausgabe erschließen. Doch erst Albrecht Schöne hat in seiner Edition im Deutschen Klassiker Verlag einen verläßlichen und brauchbaren Text konstituiert. Diese Ausgabe bleibt weiterhin unverzichtbar, weil sie neben dem sogenannten „Urfaust“ – der dort „Frühe Fassung // nach der Handschrift / des Hoffräuleins Luise von Göchhausen“ heißt – auch die zahlreichen hochinteressanten Fragmente aufführt und zudem mit einem stupenden Kommentar aufwartet. Daneben ist die Münchner Ausgabe jedoch ebenso nützlich, sowohl im Hinblick auf die sorgfältige Textgestaltung als auch den umfänglichen Kommentar.
Die neue kritische Ausgabe kann den Wortlaut noch genauer herstellen, außerdem bringt sie beide Teile der Dichtung in Originalorthographie. Goethe hatte die zwei Foliobände der Handschrift versiegelt zur Drucklegung erst nach seinem Ableben. Er wollte sich den zu erwartenden Querelen mit den Kritikern wohl nicht mehr aussetzen. Die neue Ausgabe versucht den Wortlaut auch noch dort zu bewahren, wo Unregelmäßigkeiten, Inkonsequenzen oder Irrtümer möglicherweise von Goethe den Schreibern oder Druckern zur Korrektur überlassen worden wären, etwa in den Zeilen 11205-11208 von „Der Tragödie zweiter Theil in fünf Acten“:
Erst ordnet o-
ben Saal an Saal.
Die Kostbarkeiten
Allzumal.
In analogen Fällen hat Goethe eine solche ungewöhnliche Zeilenbrechung berichtigt, an dieser Stelle jedoch nicht – Absicht oder Versehen? Es spricht für die Herausgeber, daß sie keinen für die Ewigkeit bereinigten Text erstellt haben. So bekommt das ohnehin zunehmend fragmentarisierte und aus den Konventionen der Zeit gefallene „seltsame Gebäu“ (Goethe an Wilhelm v. Humboldt) die Anmutung des trotz der langen Entstehungszeit Unabgeschlossenen, weil Unabschließbaren, und gewinnt noch einmal an Modernität.
Wem der Faksimiledruck der Handschrift, der die Textausgabe begleitet, zu teuer oder zu unhandlich ist, der ist auch mit der Online-Version sehr gut bedient, die man finden kann unter: www.faustedition.net. Die (übrigens sehr angenehm übersichtlich und augenfreundlich gesetzte) Textausgabe gehört allerdings unbedingt in jede Privatbibliothek – nicht als Bildungsnachweis, sondern zur weiteren anregenden Lektüre. Denn mit dem „Faust“ sind wir offenbar noch längst nicht fertig.
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