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Kritik

Die andere Sicht auf die Dinge der Welt

Hamburg

John Burnsides neuestes literarisches Baby ist ein von ihm herausgegebener und rund 250 Seiten starker Band, der lyrische Stimmen von der Antike bis in die Jetztzeit versammelt, eine "Originalausgabe, exklusiv in deutscher Sprache - mit fünfzig Erstübersetzungen und Erstveröffentlichungen aus aller Welt", wie die Random-House-Tochter Penguin Verlag in München verlauten lässt. Der einfache Titel "Natur! 100 Gedichte" umreißt die Thematik schlicht und schnörkellos, gewissermaßen apodiktisch und betont unlyrisch, und das hat durchaus seinen Grund.

Burnside hat dem Buch einen von Bernhard Robben übersetzten Essay vorangestellt, in welchem er die Wichtigkeit des Genres Naturgedicht in einer Zeit der ökologischen Gefährdungen betont, die beginnen unabänderlich zu werden. Er räumt dem Naturgedicht einen "Vorrang vor allen nichtnatürlichen, gesellschaftlich bestimmten Überlegungen" ein und weist die Tendenzen vergangener Jahrzehnte zurück, in denen Gedichte über Gräser, Nüsse und Fliegen belächelt und vor dem Hintergrund einer fast schon mythologisch aufgeblasenen naturwissenschaftlichen Dominanz als gestrig angesehen wurden. Aus der Akzeptanz dieser Vorreiterrolle der Natur für unser menschliches und alles tierische und pflanzliche Leben sowie der literarischen Analogie durch die Verarbeitung derselben im Naturgedicht erwachse erst die Einsicht in die Problematik sozialer und ökologischer Gerechtigkeit und der Tatsache ihrer gegenseitigen Abhängigkeit.

Politisches ist also Burnside zufolge nachgelagert im Naturgedicht, kann aber durchaus implizit vorhanden sein, zumal in moderner und nachmoderner Dichtung. Eine besondere Rolle nimmt die Frage nach dem Grad der Zugehörigkeit des Menschen zur Natur ein: das "quälende[] Gefühl, dass wir zugleich der Natur angehören und doch auf seltsame Weise von ihr ausgeschlossen sind." Dies führt Burnside zu der Überzeugung, dass die von Dichter und Umweltaktivist Gary Snyder als "wild etiquette" bezeichnete respektvolle Auffassung von der Natur als organisiertem Ganzen in all seinen Lebensformen zum "Leitprinzip unserer Kultur" erhoben werden solle.

Die mitunter nicht ganz trennscharfe Verwendung von Begriffen wie "Naturgeschichte" (ist hier die englischsprachige Bezeichnung natural history gemeint, die im Deutschen eher als Naturkunde im naturwissenschaftlichen Sinn zu übersetzen wäre?) oder "unsere[] Kultur"  (schließt dies nur diejenige der sogenannten westlichen Welt ein, wo doch vom allgemein Anthropologischen die Rede war?) stiftet an manchen Stellen zwar etwas Verwirrung. Doch wird die Stoßrichtung der vorliegenden Sammlung dennoch schnell klar: der Leserschaft soll ein Begriff vermittelt werden von den Dingen der Natur, wie sie sind, und nicht, wie sie eine verkopfte, theorielastige Epoche wie die unsere (westlich-naturwissenschaftlich orientierte) gerne darstellen würde, auch wenn der Begriff der Natur letztlich kontrovers bleibt und in der Zusammenschau zwangsläufig eine "kaleidoskopartige[] Vision"  entstehen muss.

Burnside hat Gedichte aus zweieinhalb Jahrtausenden und aus vielen Regionen der Erde zusammengetragen, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Zwangsläufig muss die Beschränkung auf einhundert Texte und Dichtende zu einer Schwerpunktbildung führen, die bei der schottischen Herkunft des Herausgebers naturgemäß im anglo-amerikanischen Sprachbereich liegt. Doch sind immerhin Schreibende aus mehr als zwanzig Ländern weltweit vertreten. Von Homer über Horaz und Ovid bis zu dem 1980 geborenen Kalifornier Nick Lantz erstreckt sich die zeitliche Bandbreite, wobei die im 20. Jahrhundert Geborenen im Fokus stehen. Angesichts dieser Tatsache ist zumindest auffallend, dass kaum zwanzig Prozent der versammelten Dichtenden Frauen sind.

Angesichts des einführenden Essays ist die, wie Burnside betont, persönliche und subjektive Auswahl wenig überraschend. Auch von den als kanonisch zu bezeichnenden Dichtenden sind nicht immer exemplarische Texte ausgewählt (so ist Goethe beispielshalber mit dem humoristischen, ansatzweise kleruskritischen Gelegenheitsgedicht "Beruf des Storches" vertreten statt mit dem vielleicht eher erwartbaren "Über allen Gipfeln ist Ruh'"), sondern jene, in denen der Herausgeber eine deutlichere Parallele zu der von ihm intendierten Stoßrichtung sah.

Auch wenn logischerweise vielerlei Formen, Strophenbauten, Gereimtes und Ungereimtes aufeinanderstoßen, so fällt doch insgesamt eine ausgesprochene Tendenz zum langen Gedicht auf. Kaum ein Text beschränkt sich auf wenige Zeilen, nicht selten werden gar zwei und mehr Seiten in Anspruch genommen. Damit einher geht ein häufig anzutreffender Hang zu im weitesten Sinne erzählenden Gedichten, was insbesondere angesichts des Sujets Natur etwas erstaunt. Die stille, handlungslose Reflexion scheint seltener Burnsides Auswahlkriterien entsprochen zu haben. Insbesondere die neueren Gedichte aus dem englischsprachigen Raum zeigen diesen Duktus, ganz unabhängig davon, wer sie übersetzt hat.

Dieser Umstand entwickelt aber nicht selten eben jene Dynamik, mit der die zitierte "wild etiquette" dichterisch ins Werk gesetzt und damit für die Leserschaft erfahrbar wird. So etwa in A.R. Ammons Gedicht "Corsons Inlet" (ins Deutsche übertragen von Jürgen Brôcan), welches so prosaisch beginnt:

"heute morgen machte ich wieder einen gang über die dünen / zum meer, / wandte mich dann nach rechts, entlang / der brandung [...]",

um dann einige Zeilen später über die Wirkung zu sprechen:

"[...] ich war befreit von formen, / von den senkrechten, / geraden linien, blöcken, kästen, fesseln / des denkens [...] ich gestatte mir bedeutungsstrudel: / nachzugeben einer richtung des sinns, / die strömt / wie ein fluss durch die geografie meines werks [...]" ,

und die Natur wird dem lyrischen Ich damit

"[...] erkennbar / als ein geschehen, / nicht als chaos [...]".

Auch die Ansprüche, die wir an andere Menschen haben, müssen durch diesen natürlichen Filter der "wild etiquette" geleitet, die Erwartungen müssen durch Erfahrungen gerechtfertigt oder aber grundlegend revidiert werden, wie es die aus der italienischen Schweiz stammende und in Argentinien (durch eigene Hand, wie auffällig viele der wenigen Frauen in diesem Buch) verstorbene Alfonsina Storni in ihrem Gedicht "Du willst mich weiß", aus dem Spanischen übersetzt von Reinhard Streit, ausdrückt:

"[...] nähre deinen Körper / von bitterer Wurzel, / trinke aus Felsen, /schlafe auf Raureif [...] sprich mit den Vögeln / und steh im Morgengrauen auf. [...] dann, guter Mann / dann verlange mich weiß / verlange mich schneeweiß / verlange mich keusch."

Die spirituelle Kraft von Manifestationen der Natur setzt etwa der tschadische Lyriker Nimrod Bena Djangrang, von Simon Werle aus dem Französischen übertragen, in Beziehung zur menschlich-intellektuellen Ebene und zieht eine verblüffend einfache Konsequenz:

"[...]November. Zwischen den Zweigen werfen die Götter / Die Last der Kronen ab, und unser Kopf / Empfängt sie. Empfangen haben wir die königliche / Huldigung; Lobpreis schulden wir ihr dafür. [...]"

Das klingt beim Amerikaner Robert Hass zwar etwas abgeklärter, aber durchaus ebenso mit einem Bezug ins Transzendente, übersetzt von Hans Jürgen Balmes:

"[...] Dunst, / Ein wenig nur, steigt von der Bucht. In dem Augenblick ist alles, / Was du, unterwegs zu deinen Besorgungen, siehst, / Ein Segen [...]"

Auf ihre eigentümlich-individuelle Art ist auch diese von John Burnside zusammengetragene Anthologie durchaus segensreich - rückt sie doch neben dem erwartbaren, plakativ Ökologie-Affinen und Politischen auch diesen naturphilosophischen Unterton in den Blick einer aufgeschlossenen Leserschaft.

 

                             ***

Anmerkung der Redaktion: Übersetzt von Bernhard Robben, Gisbert Haefs, Susanne Hornfeck, Jan Wagner, Ron Winkler, Eduard Klopfenstein, Mirko Bonné, Klaus-Jürgen Liedtke, Hans-Christian Oeser, Judith Zander, Esther Kinsky, Jürgen Brôcan, Werner von Koppenfels, Giovanni Bandini, Ann Cotten, Marianne Gareis, Simon Werle.

John Burnside (Hg.)
Natur! 100 Gedichte
Hundert Gedichte ausgewählt und mit einem Essay von John Burnside
Penguin
2018 · 256 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-328-60000-8

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