Poesia Incompleta
Der Berg als Würfelspieler.
Ein Wurf: eine Felsenkrone.
Noch einer: eine BurgWer ist dort, den Würfel zu lesen?
Wer, um zu gewinnen oder zu verlieren?
Die Gedichte von John Mateer in Ungläubige sind so vielschichtig, dass man, im Versuch darüber zu schreiben und mit Worten zu fassen, was die Gedichte gerade wortlos zwischen den Zeilen als Ungesagtes sagen, das Gefühl hat, der Boden könnte bei jedem Schritt unter einem nachgeben und man selbst in einen schier bodenlosen Zeitschacht stürzen. Um dem vorzubeugen möchte ich im Folgenden einzelne Aspekte der Gedichte herauspicken und diese als Trittsteine verwenden um so, in langen Sätzen von Stein zu Stein hüpfend, vielleicht doch sicher über zu setzen.
Titel und Untertitel schwingen sich bogenförmig über das Cover und erinnern so entfernt an einen Bumerang, was insofern eine naheliegende Assoziation ist, da John Mateer in Australien lebt. Auch Worte können Bumerangs sein, viele Sprachen durchqueren und doch wieder zu ihrem Ausgangsort zurückkehren. Gerade diesen wandernden Worten und Motiven, sowie den Spuren, die Sprachen in anderen Sprachen hinterlassen, spürt John Mateer in Ungläubige nach.
Ungläubige ist nach Ex-White / Einmal weiß (2009) und Der Narbenbaum (2015) bereits der dritte auf Deutsch vorliegende Gedichtband von John Mateer. Das große Übersetzungsinteresse an seinen Gedichten liegt in diesen selbst begründet. Im in Ungläubige enthaltenen Essay „ECHOLALIE oder Interview mit einem Gespenst“ erklärt John Mateer diesen Umstand folgendermaßen:
Ich erzählte ihr, wenn ich mich richtig erinnere, dass der Ton meines Englisch für viele Leser schwer fassbar zu sein scheint und dass meine Gedichte besser verstanden werden, sobald sie übersetzt werden.
Für einen Autor wie John Mateer, der sich gerade durch ein ungemeines Gespür für Sprache, Sprachen und Ton auszeichnet, ist die Frage der Übersetzung eine seinem Werk inhärente. Das lässt sich schon an einigen der Gedichttitel in Ungläubige heraus lesen, die da lauten: „(aus dem Afrikaans, um ins Farsi übersetzt zu werden)“, „Der Übersetzer“ und „Der Übersetzer und die Dichter“.
Vergleicht man die beiden jüngsten Übersetzungen miteinander, so lässt sich sagen, dass Ungläubige ganz anders ist als Der Narbenbaum, anders und doch gleich, gleich gut, da John Mateer ein Autor ist, der sich gerade durch seine Wandlungsfähigkeit, aufmerksame Offenheit und Tiefgründigkeit auszeichnet. Der Narbenbaum handelt von Australien und der Dichter, der darin zu uns spricht, lässt sich doch eindeutig in Australien verorten. In Ungläubige hingegen spricht ein Weltenbürger zu uns, der nirgendwo und überall zuhause ist und zwischen Ländern ebenso frei wie zwischen Sprachen und Zeiten reist.
Wir, Dichter aus einer anderen Welt, bestellten noch ein Bier.
Einerseits verorten sich die Gedichte sehr explizit, beispielsweise in Kairo, Hurghada oder Coimbra. Zugleich haben diese real existierenden Orte aber eine große Beweglichkeit, können changieren und für anderswo gehalten werden:
Alicante
Niemand glaubt mir, wenn ich sage, diese Stadt
sieht aus wie Waikiki, mit Stränden, die sich davonkrümmen
unter einem Wall aus neuen Hotels und
auf dem einsamen blanken Berg, wo ein rätselhafter
Diamond Head sein sollte, die maurische Halluzination
einer römischen Burg. [...]
Ungläubige ist ein ungemein vielsprachiger Gedichtband. John Mateers lyrische Sprache reicht über viele Landessprachen hinweg und ist eine für Worte in alle Richtungen offene Membran. Er lässt dabei auch zu, dass Worte bleiben dürfen, wie sie sind, also dass manche unübersetzt bleiben und damit ihre eigentliche Bedeutung vorerst verbergen dürfen. Die Übersetzung ins Deutsche von Daniel Terkl respektiert diese Besonderheit und bewahrt die Vielsprachigkeit. Es gibt im Anhang ein Glossar, in dem vieles erklärt wird, aber eben nicht alles, da sich manche der Worte einer Kurzerklärung schlicht und einfach entziehen. Ungläubige ist damit nur auf den ersten Blick und scheinbar „einsprachig“, weil darin die Gedichte ausschließlich in der deutschen Übersetzung ohne den Originalen enthalten sind. Bei näherer Betrachtung stellt sich dann allerdings sehr schnell heraus, dass auch das Deutsch der Übersetzungen, ebenso wie das Englisch der Originale, ein doppelbödiges ist, das durchlässig für die Rhythmen und Grammatik fremder Sprachen ist.
Und nicht allein vielsprachig ist Ungläubige, sondern auch ein recht umfangreicher Gedichtband. Und zwar nicht nur was die Seitenzahl anbelangt, sondern auch inhaltlich und formal ist die Spannweite der Gedichte enorm. Auf Anhieb lässt sich die Unterschiedlichkeit der Gedichte einmal an ihrer Länge festmachen. Es gibt das Einwortgedicht ebenso, wie das mehr- oder vielseitige Gedicht. Dabei lotet John Mateer die Grenzen des Gedichts an sich aus. Wie kurz und fragmentiert kann es sein, bzw. wie lange kann ein erzählendes Gedicht im freien Vers sein, ohne vom Gedicht zur Erzählung zu werden?
Tatsächlich speist sich die Unterschiedlichkeit der Gedichte aber aus wesentlich mehr Aspekten, als nur aus ihren unterschiedlichen Längen. Da wäre zunächst einmal das breit gefächerte Interesse des Autors für Literatur, bildende Kunst, Architektur, Geschichte, Sprache und Sprachen an sich und allem voran an Menschen. Es wird direkt in den Gedichten angesprochen oder angeführt, auf welche Bücher oder Kunstwerke sie sich jeweils beziehen, wie beispielsweise auf „eine Skulptur von João Alfonso, 1469“. Besonders schön ist die Referenz für das „Selbstportrait als Kamel, verzaubert von Dämonen“, denn hier wird auch genau angegeben, wo der entsprechende Teppich nicht zu finden ist: „ein persischer Teppich, nicht im Museu Gulbenkian“.
Im Band sind Gedichte enthalten, die Hommagen sind, wie das Kapitel „(Zwölf Gedichte) Hommage an Avraham Ben Yitzhak“, oder Nachdichtungen, wie „Nach dem einzigen bekannten Gedicht von Abd ar-Rahman“. Gedichte werden bei John Mateer zugleich zum Echo und zu Echoräumen für Stimmen, Einflüsse und Arbeiten anderer. Im „Interview mit einem Gespenst“ spricht er selbst über das Miniaturgedicht als eine Form des Echos:
Diese Verwendung des Miniaturgedichts, des Fragments, das Echo der Arbeit von anderen, ist wichtig für mich, weil es eine Art ist, in Sprachen hineinzukommen, ohne Teil ihrer Substanz zu sein.
Ein weiterer Aspekt der Bezugnahme auf Literatur ist das Verwenden von sehr alten Gedichtformen, sowohl was Struktur als auch Inhalt anbelangt, wie beispielsweise dem andalusischen Muwaschschah. Zugleich reflektiert und bricht John Mateer aber auch mit den Regeln dieser Gedichtformen, wenn er zum Beispiel eine beinahe-Qasida schreibt (eine Kasside ist eine „aus vorislamischer Zeit stammende Gedichtform“, wie uns das Glossar verrät), und die unvollständige Umsetzung der Gedichtform dann im Gedicht selbst in einem Nachsatz auch noch thematisiert wird:
(Entferne das Alltägliche hiervon,
und das Bild könnte
meine Qasida sein: [...])
Menschen widmen die Gedichte eine große Aufmerksamkeit. In den Gedichten finden Gespräche mit Freunden und Bekannten einen Raum in dem das einmal Gesagte nachwirken und –hallen kann. Aber auch Begegnungen und Nicht-Gespräche mit Fremden, die Fremde blieben, weil eben keine Worte gewechselt, sondern nur Blicke getauscht wurden, dürfen sich in den Gedichten entfalten.
John Mateer schreibt sehr eigenständige Gedichte, sprechende Gedichte, die für sich selbst und mitunter auch mit sich selbst sprechen können. Diese verschiedenen Stimmen innerhalb eines Gedichts werden optisch häufig durch Normal- und Kursivsetzung markiert:
Höre ich eine Mbira, die von zwanzig Daumen
aufgewärmt wird?
Nein, es ist die Schafsherde dort unten in dem diesigen Tal.
Der Gedichtband schließt mit dem Essay „ECHOLALIE oder Interview mit einem Gespenst“. Darin antwortet John Mateer auf nicht hörbare Fragen, reflektiert über den Gedichtband und gibt Auskunft über die Hintergründe und Gedanken, die den Gedichten zugrunde liegen. Er geht darin auch näher auf einzelne Gedichte ein, legt ihre Vielschichtigkeit offen und zeigt uns so einen Weg, wie wir uns seinen Gedichten nähern könnten, wo wir, sozusagen, mit unseren Grabungen hinab in die Tiefen der unterschiedlichen Zeit- und Sprachschichten ansetzen könnten.
Für mich ist das Überraschendste an Ungläubige nicht sosehr die große Bandbreite, Vielstimmigkeit und Unterschiedlichkeit der Gedichte an sich, sondern der starke Zusammenhalt des Gedichtbandes bei eben dieser großen Bandbreite, Vielstimmigkeit und Unterschiedlichkeit der Gedichte. Der Gedichtband zerfällt nicht in unzusammenhängende Bruchstücke und Einzelteile, sondern ist ein durchkonzipiertes und als solches in sich stimmiges Ganzes. Es ist gerade der Essay „ECHOLALIE oder Interview mit einem Gespenst“ der die Gedichte und Kapitel rückblickend nochmals miteinander verknüpft und in Beziehung zueinander setzt. Man könnte den Essay damit auch als Einladung zu einer erneuten, vertiefenden Lektüre des Gedichtbandes verstehen.
***
Im Februar 2019 stellte Astrid Nischkauer John Mateer im Literarischen Selbstgespräch vor, in dem er sich intensiv mit dem Buch Ungläubige auseinandersetzte. UNBEDINGT LESEN!
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