Großes Erden in W(eh)
1. Vor uns liegt ein ausgedehnter Tummelplatz der Worte. Denn das Buch „wundgewähr“ ist, sieht man von den „21 Gedichten aus Istanbul“ ab, des Hausachers José F.A. Oliver erste größere Sammlung neuer Lyrik seit seinem „fahrtenschreiber“ aus dem Jahr 2010, deshalb verwundert der enorme Umfang von beinahe zweihundertzwanzig Seiten nicht.
2. Vieles hat sich aufgestaut, vieles ist angespült worden, vieles drängte in Worten empor. Eine andere Ordnung als die (vermutlich) chronologische ist nicht erkennbar. Olivers Gedichte sind Mitschriften auf dem Weltpfad sensibler Auslotung des Wahrnehmens und Beobachtens.
3. Nichts entgeht ihnen, sie umarmen alles, nehmen alles auf, das unscheinbare Detail (‚das Kleine’) genauso wie die existenzielle, gewichtige Geste.
4. Grußworte an die Ewigkeit, von einer alltäglichen Plattform aus gesprochen.
5. Man könnte nach thematischen Hotspots suchen. Tod. Verwehen. Vergehen. Werden („w:erden“). Das Pendel schlägt jedoch über die ganze Breite aus. Eins führt zum anderen, assoziativ, integrativ.
6. Das Ausschwingen ist oft hymnisch, rhapsodisch, eine Sprachfeier, ein angestoßener Kalligraphiepinsel, der sich austobt, rechtsbündig, linksbündig, in langen oder ganz kurzen Zeilen, kursiv, in Versalien; und ein Sturm von Zeichen, der in die Sätze fährt, verleiht ihnen Atem und stöbert neue Bedeutungen auf.
7. Einfache Mittel wie ungewohnte Getrenntschreibungen oder ein gezielt mitten ins Wort gesetzter Doppelpunkt verwandeln die Gedichte in Etymanalysen, weil eines im anderen steckt, weil Bedeutungen sich gegenseitig befruchten, weil die Keime des Einen im Anderen aufgehen. Das ist Olivers Verfahren der Tag- und Nachtsichtenaufspaltung — Etyme sind Enzyme! — seit langem, und es ist wirklich erstaunlich, wieviel Erhellung dadurch entsteht, denn „wir sind | im schattenbedürfnis bittstellsilhouetten & eins & ge | zweit“.
8. Augen-Blicks Stenogramme, Tageskommentare zwischen den Zeilen.
9. Oliver hat sich einen Ernst zu eigen gemacht, dem oft ein Schalk im Nacken sitzt. Aber so wie die Narren in den Theaterstücken, die die eigentlich Klugen sind.
10. Das Sprach-Spiel ist der lustvolle Umgang mit dem Instrumentarium der Wörter. Sie loten in die Tiefe — sechs Fuß oder full fathom five —, leiten von einem Sprachabzweig zum nächsten, sind Erfassung von allem, was über oder unterm Radar fliegt: „katzenpfotenmorgen“, „traurigschnee“, „mundbefäultes“, „gichtknotentempus“. Lustvolle Wahlverwandtschaften der Komposita.
11. Die Schleichspuren der Lektüre sind unübersehbar: Lorca, Derrida, Hermann Lenz, André Breton, Anna Achmatowa... Manchmal sind sie versteckt, manchmal wird ihnen die Signalweste der Anführungszeichen übergestreift.
12. So hoch die Worte im Sprachspiel auch jongliert werden, sie bleiben geerdet. Nur sehr wenige Gedichte dieser Sammlung sind schwer oder mangels Anknüpfungspunkten kaum nachvollziehbar. Vielleicht wäre ein vorsichtiger Rückschnitt um — zehn? — fünfzehn? — Seiten ratsam gewesen.
13. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln. Das heißt auch: menschlich konstruieren, „nach Menschen- und nach Engelsmaß“, das Menschliche zulassen.
14. Die Balance von Konstruieren und Improvisieren.
15. José F.A. Olivers multilinguale Sprachorgie bildet auf ihre Weise die Grenzzaunfreiheit des Denkens ab. Es wäre nicht zwingend nötig, die Gedichte ‚von vorne bis hinten’ zu lesen, man kann an einer beliebigen Stelle eintauchen, um sich dann in alle Richtungen weiterzuhangeln. Bis man selbst ein Wörterkörper ist, in der Lesescharte. Glotzäugig staunend. Geschärfter vorm – vom? — Wehen.
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