wunderfitzig
Kindheit war das ungefährdete Glück ...: José Olivers erste Worte lassen aufmerken. So sollte jedes Erwachsenenleben beginnen können und beginnt allzu oft nicht so – von Anfang an ungefährdet, reich an Glückserfahrungen in dieser vulnerablen Phase des Seins, unseres Kindseins, aufgehoben in einem liebenden Umfeld, im Vertrauen, auch im Zutrauen zu anderen und zu sich selbst.
In elf Essays und einem Epilog erzählt Oliver von sich und seiner Familie, von Herkunft, vom Ankommen und Werden, von Fremdheit und dem, was man „Heimat“ nennt: dem Landstrich, in dem man aufwächst, nahen Menschen und der Geborgenheit in einer Sprachfärbung, schließlich in der Sprache selbst. Für den spanischen Hausacher wie den deutschen Andalusier gab und gibt es jedoch nie nur eine, sondern zwei und in der Sprache zumindest vier Heimaten, die ihn ausmachen und die er uns mit kleinen Liebeserklärungen poetisch näher bringt.
Ich bin in einem Haus aufgewachsen, das zwei Stockwerke hatte. Im ersten Stock wurde alemannisch gesprochen, also annähernd deutsch, und im zweiten andalusisch, also annähernd spanisch. Wenn sich eine sternklare Nacht abzeichnete und man den Mond am Himmel sah, hieß er im zweiten Stock „la luna“ und war weiblich. Betrachtete man la luna vom ersten Stock aus, war sie plötzlich männlich und hieß „der Mond“. Ein paar Treppenstufen genügten, und aus der Frau wurde ein Mann – oder umgekehrt.
Olivers Eltern kamen vor Jahren wie viele andere aus dem Süden als Gastarbeiter nach Deutschland, waren andalusische Emigranten, die den Geschmack des Hungers auf der Zunge trugen und hier als Arbeitskräfte willkommen waren. Sie zogen in den Schwarzwald, wo ihr Sohn José 1961 in Hausach geboren wurde. Mutter wie Vater arbeiteten in Fabriken des Orts und der Akkord gab auch die übrige Zeit vor. Ständig in Eile, hetzend zwischen Arbeit, Haushalt und vier Kindern lebte man für ein paar Augenblicke am Abend, fürs Wochenende oder für sechs Wochen Sommerurlaub in Südspanien, von den Eltern als „Heimreise“ bezeichnet. „Eigenväterlich“, so Oliver, war der Vater, der, in Hausach bloß „nomadenheimisch“, schließlich an „Heimwehfieber“ starb und in seinem „Gelobten Land“ Andalusien begraben wurde.
Obwohl beide kaum Zeit hatten, blieben die Kinder nie sich selbst überlassen, sondern wurden von Emma Viktoria betreut, die ohne eigene Kinder blieb.
Für jedes Bedürfnis hatte ich eine Mutter. Für die Nestwärme die andalusische. Für das Rückgrat auf der Straße die alemannische. Dort war vor allem der Kampf um Sprache und Emma Viktoria als Verbündete, wenn es darum ging, so sein zu dürfen wie die anderen. ... Das Recht darauf, ein Gymnasium besuchen zu dürfen. Die Genugtuung alsbald, dass die deutsche Sprache auch mir gehörte und ein Gastarbeiterkind nicht zwangsläufig der Gastarbeiter von morgen zu sein hatte.
Der erste Essay des Buchs ist eine Hommage an diese beiden Mütter, die leibliche andalusische wie die alemannische, die von niemandem Mutter oder Mama genannt wurde und trotzdem eine war, die ihnen mehr als die deutsche „Muedersproch“ vermittelte. Hier liegt die Wurzel für Olivers Beschäftigung mit Sprache, etwa wenn er von klein auf als Übersetzer, Vermittler und Bindeglied zwischen beiden Müttern und Sprachen all „meine Redekunst aufbringen musste“, sich später im Gymnasium unter Drohungen eines „dialektverwaist“en Lehrers plötzlich Hochdeutsch anzueignen, privat auch das Hochspanische zu lernen hat und erkennt, „es hat ... seinen Reiz, zwischen der Schriftsprache und dem Dialekt hin und her zu pendeln“.
Die eigene Sprache zu entdecken, und ich bezeichne deshalb auch einen Dialekt als Eigensprache, bedeutet immer auch sich die Aussagen bewusst vor Augen zu führen, die in ihr getroffen werden, die sie überliefern und deren Reichweite nicht mehr wahrgenommen wird.
Wörter abwägen, hinterfragen, ein plötzliches Erkennen. Oliver schreibt von seiner Zeit als Sternsinger, da er begann, an den vorgegebenen Texten zu zweifeln, als das Wort „schwarzes Gesicht“ und „Heidenland“ für ihn plötzlich nicht mehr zusammengingen. Beleuchtet in einem anderen Essay den Ursprung des Flamenco und die Verfolgung der „Gitanos“ über die Jahrhunderte. Oder erzählt von „el muerte“, dem Tod. Heimat und Fremde sind hier durchgehendes Thema, schon im Titel „Fremdenzimmer“ benannt, das für manche wie Olivers Vater immer nur ein vorübergehendes Zuhause war, für den Sohn ein bleibendes im Schwarzwald wurde.
Selbstverständlich bewegt der „Husacher“ Oliver sich und uns in diesem Buch zwischen beiden Ländern und den vier Sprachen. Immer wieder lesen wir alemannische Worte, Sätze oder gleich zwei Seiten wie im Auftakt des Essays „d Hoimet isch au d Sproch“, die meist in Fußnoten übersetzt werden, sich beim lauten Lesen aber leichthin erschließen, sowie Einsprengsel und Zitate aus dem Spanischen. Wir erfahren von literarischen Einflüssen, beginnend bei deutschen und spanischen Liedern und Märchen, über Cervantes und Grimmelshausen, die beide „mit Wörterhand erzählen“, bis ins Heute, etwa den Büchern seiner Hausacher Schreibklause, von denen er einige in „Postskriptum“ benennt. Nicht zuletzt schreibt Oliver von eigenen Gedichten, von Wortspielereien, Experimenten und dem Aufbrechen von W:orten mit einem bewusst gesetzten Doppelpunkt. Passend zum Erwachsenwerden ändert sich die Sprache im Buch, wird zunehmend dichter, poetischer und bietet eine Fülle an Wortneuschöpfungen, präzisen Beobachtungen und weisen Erkenntnissen, die alle zu zitieren den Rahmen einer Rezension sprengen würde. Ein sehr persönliches Buch, das weit über das Private hinausreicht. Nachdrückliche Empfehlung!
Fixpoetry 2015
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