Als hätten die Kausalitäten Laufmaschen
Pelzmäntel, Champagner, großer Gestus – und immer wieder die Frage: Meinen die das ernst? So allmählich hat fast jedes Feuilleton seinen – mal enthusiastischen, mal eher widerwilligen – Beitrag zur Vermarktung der „Rich Kids of Literature“ geleistet. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen (Hpyer-)Ironie, dass sich die Medien fast ausschließlich mit den RKOL als Phänomen (sprich: deren medialen Inszenierungsstrategien) befassen, und damit genau das perpetuieren, was sie ihnen unterstellen. Die Texte hingegen, die das Kollektiv ja tatsächlich produziert bzw. herausgibt, werden konsequent ignoriert.
Darum nun schnurstracks zur jüngsten Veröffentlichung des Korbinian Verlags (der 2015 von drei RKOL-Mitgliedern gegründet wurde): Joshua Groß’ verspielt-abgründige Erzählung „FLAUSCHkontraste“. Hauptprotagonist ist Frank Tur, der slackermäßige Telepathie-Detektiv mit Vorliebe für halluzinogene Kräuter, den einige bereits aus „Faunenschnitt“ kennen mögen. Der beige Hund ist inzwischen („genau wie Sean Price“) an ungeklärtem Herzversagen gestorben; Franks Empfänglichkeit für Portale in andere Dimensionen hingegen ungebrochen. Ob im Milchschaum auf seinem Morgenkaffee, dessen knisternde Auflösung ihn an ein wegfliegendes UFO erinnert, in einer Frau mit Einhornmaske, die mitten auf einer winterlichen Nürnberger Straße „Engel im Schnee“ spielt, oder der „blondierten Vergeblichkeit, die permanent damit beschäftigt ist, nachzufärben, weil ihre eigentliche Beschaffenheit gleich wieder am Ansatz aufscheint“ – überall und jederzeit stehen die Tore zu anderen Welten einen Spalt offen. In etwa demselben Tempo, mit dem Groß wundersame Metaphern zu produzieren versteht, die äußerst intensive, wenn auch komplizierte Emotionen hervorrufen („Wie Frank an diesem Vormittag durch die Jalousien blickt, das ist, als wären seine Augen Eiswürfel, die nicht schmelzen können“), lösen sich nach und nach jegliche Kausalitäten auf, die normalerweise ein Narrativ zusammenhalten. Umso erstaunlicher, dass man trotzdem von Seite zu Seite wissen möchte, wie es weitergeht.
Wenn Frank nicht gerade live getwitterte Aufzugwettrennen im Sheraton-Hotel veranstaltet, begibt er sich auf diverse (auf den ersten Blick) sinnfreie Missionen: Er protokolliert das Verschwinden von Straßenlaternen mit hängenden Köpfen, versucht den Transport einer Filiale der Fast-Food-Kette „Kap der heißen Kartoffel“ zu vereiteln, und – hier gibt es tatsächlich so etwas wie einen roten Faden – versucht die Existenz eines fränkischen Flusses namens Rovnitz zu beweisen. Flüchtig erschien das mysteriöse Gewässer auf Google Maps, um dann für immer zu verschwinden. Was, in Franks Weltsicht, zwangsläufig die Frage aufwirft: „Existiert ein geheimes Google Maps-Programm, das nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit kartografiert und zugänglich macht?“
Ob wir uns in einer nahen Zukunft oder einem leicht verschobenen Jetzt befinden, lässt Groß dabei offen. Allein die sparsam eingestreuten Science-Fiction-Elemente vermitteln ein Gefühl des Aus-der-Zeit-Gefallenseins. Manchen Passanten sitzen Papageien-Hologramme auf den Schultern (oder Frank hat zu viel Arung geraucht); eine Nebenfigur behauptet, ihre Sehkraft beweglichen Kameras zu verdanken, die ihr in die Augenhöhlen gesetzt wurden (eine Weiterentwicklung von Google Glass?).
„Investigativer Report aus dem paranormalen Schwebezustand des Diffusen“ – treffender ließe sich „FLAUSCHkontraste“ wohl kaum zusammenfassen. Zugleich entwickelt Groß eine mal amüsante, mal beunruhigende Esoterik des Digitalen, die aktueller nicht sein könnte. Denn das „Diffuse“ manifestiert sich auch darin, dass wir uns – mit jeder Bewegung im Virtuellen – permanent in Datenspuren verwandeln, also quasi auf unsichtbare, kaum nachvollziehbare Weise unendlich vervielfältigen. „Welche Wahrnehmung kann nicht eingespeist werden?“ fragt sich Frank dementsprechend. Und: Ist eine Verschwörung der Straßenlaternen wirklich so viel absurder als jene Art von „Gedächtnis“, die sogenannte Cookies dem Netz auferlegen? Groß’ wiederkehrendes Thema, die „Sehnsucht nach der danger zone“, meint hier auch ein Jenseits des Quantifizierbaren – oder wirft zumindest die Frage auf, in welcher Form ein Ausbrechen aus der Wenn-Dann-Schleife überhaupt (noch) möglich ist.
Ein Schreiben abseits teleologisch motivierter Handlungsabläufe ist im gegenwärtigen Literaturbetrieb nicht leicht, aber immerhin vorstellbar. Fragt sich nur, wie lange noch. Ganz im Sinne der RKOL vergleicht Frank in einer zornigen Mail an seinen besten Freund 99 Prozent dessen, was da draußen über die Buchladentische bzw. in die Amazon-Einkaufskörbe wandert, mit den Nutellabrothäppchen, die seine Oma ihm servierte, als er fünf war.
Ist das jetzt ultraromantisch? Oder gar hyperironisch? Es wäre dem Autor gegenüber ausnehmend unfair, „FLAUSCHkontraste“ an den dem RKOL-Kollektiv vorauseilenden Forderungen zur Radikalerneuerung zu messen. Zumindest aber lässt sich sagen: Groß findet eine stimmige Balance zwischen Ekstase und Melancholie, Tiefgang und Trash. Den Anspruch, eine „neue literarische Bewegung“ einzuläuten, möchte man einer einzelnen Erzählung nicht zumuten. Eines ist „FLAUSCHkontraste“ jedoch ganz sicher nicht: „rindenlose-kleingeschnittene-mit-Gabel-servierte-Ambitionslosigkeit.“
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