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Kritik

"So hätte die Geschichte enden können"

Hamburg

Methodisch breitet das Vorwort des Mitherausgebers Bogdan-Alexandru Stănescu aus, was die zweihundertneunundsechzigste Ausgabe der horen leisten will. Was wir bekommen, soll ein Überblick über neueste rumänische Erzählprosa sein, und zwar genauer: Über solche rumänische Erzählprosa, die aus dem Kraftfeld der seit 2004 stil- bzw. zumindest identitätsstiftenden Edition "Ego. Proza" stammt, und damit jedenfalls aus den beiden distinkten Netzwerke zeitgenössischer rumänischer Literatur (eins verortet in der Stadt Jassy, das andere an der Uni Bukarest); nur vollständige Erzählungen, keine Auszüge aus Romanen; weiters

auf Ersuchen der deutschen Verleger [vor allem] (…) Geschichten, (…) die ein nach Möglichkeit realistisches Bild der gegenwärtigen rumänischen Gesellschaft zeichnen, die seit drei Jahrzehnten in ständiger und stetig bestürzender Umwälzung begriffen ist.

Nun wäre über die Sinnhaftigkeit und über die Implikationen dieses Ersuchens gesondert zu diskutieren. Erstens: Sind Textbeiträge 1 in Literaturzeitschriften der beste Platz, außerliterarische Wirklichkeiten bekannt zu machen? Zweitens: Ist der Entsprechung manifester Erzählinhalte mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu trauen? Und drittens: Ob nicht gerade die Auswahl intuitiv realistisch zu lesender Texte den Eindruck von der "gegenwärtigen rumänischen Gesellschaft" (bzw. halt von jeder anderen auch) verfremden muss? …

… Aber wie auch immer wir auf diese drei Fragen zu antworten tendieren – wir werden anerkennen müssen, dass die Vorgabe streng eingehalten wurde. Der Band hält, was das Vorwort verspricht: Die wörtlichen Reden, sie reden. Die psychologisch plausiblen Motivationen sind auf ästhetisch plausible Weisen in den Welt-, und Landschafts-, und Interieurschilderungen verschraubt. Eine bestimmte Anzahl wiederkehrender Motive, Topoi und impliziter Vorannahmen der Figuren über die Welt wird nach der Lektüre der ersten paar Erzählungen sichtbar; nichts davon wirklich überraschend; als das am stärksten verbindende Element zwischen der großen Mehrzahl der Geschichten erscheint zumindest mir die betonte Inszenierung des Unterschieds von "verengtem Blickfeld" auf Situationen "tatsächlicher Weite" zu sein; zwischen sozialer Einbettung und anders-sozialer Freiheit – die Unmöglichkeit des "richtigen" Blicks bei aufrechterhaltener menschlicher Bindung. Wir dürfen, klar, ideengeschichtlich gesehen von einer Antwort der Kunst und der Sprache ganzer Generationen auf das weiter wirkende Trauma des Stalinismus Causescu'scher Prägung ausgehen; von herleitbarem Misstrauen gegen "objektive Wahrheit", Thematisierung (auch der Tragik) der individuellen Bedingtheit … Man wüsste zu gern, wie bzw. ob sich das in dem weniger "realistischen" Segment gegenwärtiger rumänischer Literatur ausdrückt, und was einem das dann, siehe oben, über die "bestürzenden Umwälzungen" der rumänischen Gesellschaft sagt. Ein erfreuliches Element sozialistischer Literatur wirkt scheint's ebenfalls weiter – die zumindest gelegentliche (und damit für deutschsprachige Leser schon höchst auffällige) Präsenz der tatsächlichen Arbeitswelt, wie sie das Bewusstsein der tatsächliche Menschen formt.

Bei alledem wird aber die Zusammenstellung für mich – für mich! – gerade dort auf unakademische Weise interessant, wo einige der Texte sozusagen an den Grenzen der Auswahlkriterien operieren; wo alle die genauen und plausiblen Dialoge, die irgendwann brav auf ihre Pointen hinauslaufen, dann doch einmal – sagen wir 'realistisch begründet' – grelleren, stilisierteren, weniger plastischen Darstellungsmodi weichen (Anspieltips in diesem Zusammenhang: Ionuţ Chiva, "Die Liebe verließ mich, als ich zwölf war" und  Florin Lăzărescu, "Gevatter Mihai und Genosse Gott".)

***
Mitwirkende / Herausgeber: Georg Aescht, Bogdan-Alexandru Stănescu, Ernest Wichner / Autor*innen: T. O. Bobe, Lavinia Branişte, Ionuţ Chiva, Marius Chivu, Augustin Cupşa, Radu Pavel Gheo, Silviu Gherman, Florin Iaru, Florin Lăzărescu, Dan Lungu, Mihai Mateiu, Bogdan Munteanu, Veronica D. Niculescu, Radu Paraschivescu, Cezar Paul-Bădescu,Răzvan Petrescu, Alexandru Potcoavă, Bogdan Răileanu, Ana Maria Sandu,Sorin Stoica, Lucian Dan Teodorovici, Alex Tocilescu / Bilder: Răzvan Luscov

  • 1. Im Gegensatz zu, z. B., informativ-nichtliterarischen Anhängen.
Jürgen Krätzer (Hg.)
die horen Nr. 269 / Die Entführung aus dem Serail
Zusammengestellt von Bogdan-Alexandru Stănescu, Georg Aescht und Ernest Wichner
Wallstein Verlag
2018 · 219 Seiten · 14,00 Euro
ISBN:
978-3-8353-3194-5

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