Ein Meer aus Sehnsucht
In ihrem Debüt-Roman nimmt uns Karen Köhler mit in ein abgelegenes Dorf, das mit all seinen Gesetzen und Ritualen weit entfernt scheint, im Innersten näher aber nicht sein könnte.
Eine junge Frau ohne Namen lebt im "Schönen Dorf" auf einer Insel, die ebenfalls keinen Namen hat. Seit sie als Baby ausgesetzt wurde, lebt sie unter der Obhut des Bethaus-Vaters, des geistlichen Oberhaupts der Dorfgemeinschaft. Das ermöglicht ihr zwar das Überleben, schützt sie aber nicht vor täglichen Beleidigungen, Übergriffigkeiten und Misshandlungen. Sie gilt als Unglück, welches die Ordnung des Zusammenlebens gefährdet und eigentlich beseitigt gehört.
Statt dies zu tun, hat das Dorf ihr schlicht fast jegliche Rechte verwehrt. So darf sie keinen Namen tragen, nichts besitzen, nicht heiraten, keine Kinder kriegen, nicht ins Stammbuch aufgenommen werden und auch nach dem Tod kein Miroloi, kein Totenlied, gesungen bekommen. Zusätzlich ist ihr, wie allen Frauen, das Lesen und Schreiben, verboten.
Sowieso besteht das Dorfleben aus lauter Vorschriften und Traditionen, die nach Außen hin schön wirken, jegliche Abweichungen aber verbieten.
"Wie wir leben, entscheidet der Ältestenrat, das sind die dreizehn Ältestenmänner im Dorf, die noch richtig denken können. Sie haben Erfahrung, sie haben Weisheit, sie haben Ruhe und Gleichmut, und deswegen können sie gut Entscheidungen treffen, sagen sie."
So lebt die junge Frau ohne Namen also als Aussätzige, als Außenseiterin unter den "Tausendaugen" und füllt sich die Tage mit Arbeit. Sie kocht, sie putzt, sie näht, sie gibt die Kirchglocken-Signale, bestellt den Garten, füttert die Hühner. Tagein, tagaus.
Bis der Bethaus-Vater entscheidet, dass sie Lesen und Schreiben lernen soll und, dass es ihr zusteht, zu wissen und zu bewahren. Bis sie eines Tages Yael kennen lernt und sich verliebt. Bis sie anfängt, gegen eine Regel nach der Anderen zu verstoßen. Sie singt sich ihr eigenes "Miroloi".
"Ich trage so viele Geheimnisse in mir, dass ich fürchte, jeden Augenblick purzelt mir eines aus dem Leib. Ich habe einen Namen, habe eine Knospe, habe einen Vollmondmann und eine Zimmerfreundin. Ich lerne das Lesen und das Schreiben. Ich besitze."
Karen Köhler entführt uns in "Miroloi" in eine Welt der Sehnsüchte, der Zweifel, der Ungewissheit. Dabei wirkt ihre Sprache wie ein Sog, ist so voller Hingabe und Tiefe, vermischt Trauer und Wildheit mit Naivität und Poesie, dass einem teilweise schwindelig wird. Der landschaftlichen Schönheit der beschriebenen Insel stellt sie die zugrunde liegende menschliche Hölle der Dorfgemeinschaft entgegen und schafft es, einen interessanten Wechsel aus tiefer Sympathie und ebenso tiefer Abscheu zu erzeugen. Die Verzweiflung der jungen Frau ohne Namen ist in jeder Zeile spürbar, ihr Drang auszubrechen und ein anderes Leben zu führen ebenfalls.
"Ich möchte auch nur mir selbst gehören. Wenn du dir nicht selbst gehörst, bist du nicht frei."
Natürlich mag es für manch eine*n feministisch bewanderte*n Leser*in schwer auszuhalten sein, sich in eine bewusst recht naive Protagonistin hinein zu versetzen. Beizeiten erscheint die Handlung selbstredend weit hergeholt. Man muss sich aber nur einmal in der Weltgeschichte und -politik umschauen, um zu erkennen, dass es sowohl in der Vergangenheit, als auch Gegenwart und, wenn wir nicht aufpassen, der Zukunft solche totalitären Gesellschaften gegeben hat, gibt und geben wird, in denen Frauen unterdrückt werden. Die Behauptungen, "Miroloi" sei pseudo-feministisch oder hier stelle sich jemand "dümmer", können nur aufgestellt werden, wenn man sich noch nie mit der (religiösen) Ausbeutung der Frau beschäftigt hat.
"Miroloi" ist ein Kammerspiel, die Brust zuschnürend, den Atem nehmend. Gleichzeitig ist der Roman auch ein Aufschrei nach Freiheit, nach Leidenschaft, nach mehr und Meer, nach Allem, was das Leben zu bieten hat oder bieten könnte, wenn man sich los reißt und Altes verbrennt.
Fixpoetry 2019
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Kommentare
Karen Köhler: Miroloi
Mal eine wertschätzend formulierte Beurteilung. Freut mich. Habe es gelesen und K.K.'s Lesung beim Poetenfest Erlangen gelauscht. Wie wäre es, dieses Buch mal nicht wörtlich, sondern als Metapher zu lesen?! Wofür wohl?
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