„Wie lange dauert das eigentlich, so ein Gedicht?“
F. Starik * 1958 † 16. März 2018
In den Niederlanden und in Flandern kommt der Dichtung größere Sichtbarkeit und gesellschaftliche Relevanz zu, als in den deutschsprachigen Ländern. So gibt es in einigen Städten das offizielle Amt des Stadtdichters, in das DichterInnen gewählt werden. Ihre Aufgabe ist es, Poesie unter die Menschen zu bringen und als urbane Chronisten Gedichte zur Stadt zu verfassen.
Während seiner Zeit als Stadtdichter von Groningen begann der niederländische Schriftsteller Bart FM Droog, Begräbnisse zu besuchen, bei denen keine Verwandten oder Freunde der Verstorbenen anwesend sein würden, sondern nur Personen, die von Berufs wegen da waren: Sargträger, Mitarbeiter des Sozialamtes und der Friedhofsverwaltung sowie der Begräbnisleiter. Und Bart FM Droog beschloss, im Namen der Stadt diese „Einsamen Begräbnisse“ stellvertretend für die fehlenden Trauergäste mit einem Gedicht zu begleiten. Dieses lyrisch-soziale Projekt ist mittlerweile in mehreren Städten etabliert, u.a. in Amsterdam, Antwerpen, Den Haag, Löwen, Rotterdam und Utrecht.
Das vorliegende Buch beschränkt sich auf zwei dieser Städte. In Amsterdam und in Antwerpen finden jährlich etwa 15 Einsame Begräbnisse statt, weit über 300 sind es bisher, die von DichterInnen begleitet wurden. 32 dieser Beiträge, je 16 aus Amsterdam und Antwerpen, wurden nun vom Übersetzer Stefan Wieczorek in Zusammenarbeit mit Carina Becker, dem niederländischen Künstler F. Starik und dem flämischen Schriftsteller Maarten Inghels ausgewählt und geben einen famosen Einblick in dieses Projekt. Ihre Kriterien waren, uns einen Querschnitt der Begräbnisse zu zeigen und poetisch überzeugende Gedichte ins Buch aufzunehmen.
Dieses Buch sammelt verschwundene Leben und dokumentiert die Suche nach den richtigen Worten schreibt Maarten Inghels im Nachwort dieses Buchs. Und F. Starik meint in seinem Vorwort:
In gewisser Weise lässt sich dieses Buch als Plädoyer für relevante Kunst lesen, für Poesie, die mitten im Leben steht, auch wenn wir dieses Leben im Tod finden.
Seit 2002 koordiniert F. Starik das Projekt in Amsterdam, Maarten Inghels seit 2009 jenes in Antwerpen. Sie verfassen zu jedem Einsamen Begräbnis einen Bericht und wählen die „Dichter vom Dienst“ aus. Jeder Bericht beginnt mit den Eckdaten der Verstorbenen: Geburts- und Sterbedaten soweit bekannt, Tag, Ort und Art des Begräbnisses. Die Namen der Toten wurden für dieses Buch anonymisiert, einige blieben unbekannt und wurden N.N. (Nomen Nescio) begraben. Unter den einsam Verstorbenen sind Junkies, Obdachlose, Selbstmörder, illegale Einwanderer, Drogenkuriere und Opfer von Verbrechen. Die meisten einsam Verstorbenen werden jedoch zu Hause aufgefunden. Es sind alte oder schwerkranke Menschen ohne Sozialkontakte, die niemandem abgehen und manchmal erst Wochen oder Monaten nach ihrem Tod entdeckt werden.
Die Berichte sind jenes Gewebe, in das die Gedichte sorgsam eingebettet sind. Sie geben u.a. Auskunft über die Schwierigkeiten, unter Zeitdruck Informationen über die Toten zu sammeln, denn es bleiben nur drei bis 7 Tage von der ersten Information über einen einsam Verstorbenen bis zu dessen Begräbnis. Jedes noch so kleine Informationsschnipsel dient als Material und Hallraum für das poetische Wort: Recherchen im Internet, Medienberichte, Befragungen von Nachbarn, des Krankenhauspersonals, der Polizei. Oft begeben sich die „Dichter vom Dienst“ auch an den Ort des Auffindens der ihnen unbekannten Person, die Wohnung, den Wohnblock, die Grachten, mit der Hoffnung, wenigstens ein atmosphärisches Gespür zu bekommen, um die richtigen Worte für die Verstorbenen finden zu können. Trotzdem hat man manchmal nicht mehr als ein paar äußerliche Merkmale der Toten, ein vermutetes Herkunftsland und den Polizeibericht in der Hand. Starik schreibt:
Die Aufgabe des Dichters beim Einsamen Begräbnis ist sensibel, dienstbar ... Der Dichter bringt einen letzten Gruß an jemanden, den er nicht gekannt hat, auch niemals kennenlernen wird. An jemanden, den niemand mehr kennenlernen wird.
Stil und Tonlage der Berichte unterscheiden sich. Inghels schreibt zumeist knapp, nüchtern, lakonisch, Starik hingegen lebhaft und einfühlsam beschreibend. Beide Dichter sparen sich selbst nicht aus, werden manchmal persönlich, geben wahrhaftig Auskunft über ihre wechselnden Gefühlslagen. Starik beschreibt im Vorwort Grundsätzliches:
Wir fällen kein Urteil. Für uns zählt nur der Respekt vor dem Leben. ... Wir haben kein falsches Mitleid. ... jeder Mensch verdient Respekt.
Und doch ist es nicht einfach, nicht zu werten, nicht auch persönlich betroffen zu sein. Die Frage, was ist schief gelaufen in diesen Leben, kommt hoch, auch die Dankbarkeit, dass man selbst in einem sozialen Umfeld gut aufgehoben zu sein scheint. Als das Flüchtlingskind “Jayson N.“ im Alter von 44 Tagen im Krankenhaus an Verwahrlosung stirbt und seine Eltern nicht auffindbar sind, ist Maarten Inghels „Dichter vom Dienst“. In den fünf Jahren seiner Tätigkeit sei es das erste Kind, für das er ein Gedicht zu schreiben habe und man begreift, wie sehr ihm dies zu Herzen geht. Und F. Starik vermag nichts über das Einsame Begräbnis von W.G. zu schreiben, das zu den Berührendsten des Buchs zählt. Er überlässt den Bericht Eva Gerlach, der „Dichterin vom Dienst“. „W.G.“ war, so brachte man in Erfahrung, ein drei Mal geschiedener Vater von acht Kindern, die von ihm nichts als Gewalt und Zurückweisung erlebt hatten, in Kinderheimen aufwuchsen und keinen Kontakt zu ihm hatten. Unerwartet erscheint einer seiner Söhne, C.G. zum Begräbnis. Er habe, so erzählt er, an seinem 16. Geburtstag versucht, seinen biologischen Vater zu besuchen, dem er seit seinem zweiten Lebensjahr nicht mehr begegnet war.
C.G.: „Man will doch wissen, wer das ist, man denkt, dass er dich vielleicht auch ... man weiß ja nie.“ Der Vater öffnete und sagte, er solle sich nie wieder blicken lassen. C.G. ist jetzt 54 Jahre jung und hat seinen Vater seither nicht mehr gesehen. „Und dann kam dieser unpersönliche Brief von der Gemeinde Amsterdam, dass er – also mein Vater – tot sei, und ich dachte: Ich gehe hin. Aber ich sage vorher nicht Bescheid, dass ich komme. Wenn es nicht klappt, gehe ich nicht hin.“
Während des Begräbnisses wird er dem Vater nicht nur sagen, was er ihm nie persönlich sagen hatte können, nämlich, dass er ihn geliebt habe, sondern wird auch den Sarg tragen und seinen inneren Frieden finden.
„Das kann er mir nicht mehr nehmen“,
wird er nachher im Kaffeeraum sagen.
„Ich habe es gemacht, wie ich es wollte. Ich bin gekommen, und er hat mich nicht weggeschickt. Das fällt nicht mehr unter seine Regie.“
Auch zu anderen Begräbnissen erscheint manchmal unerwartet ein Angehöriger, eine Freundin, die Nachbarin. Ein Gedicht mag durchaus für Menschen ungewöhnlich sein, die in ihrem Alltag keinerlei Berührungspunkte mit poetischen Texten haben und vielleicht erstmals damit konfrontiert werden. Die meisten sind tief ergriffen und dankbar, dass ein Gedicht ihre Toten würdigt und sie auf dem letzten Weg begleitet.
Die Gedichte selbst sind Anlassgedichte, die sich behutsam den Verstorbenen nähern. Die Vielzahl der im Buch vorkommenden LyrikerInnen lässt die Bandbreite des individuellen Zugangs begreifen, mit dem diese sich zum anonymen Tod in Beziehung setzen. Für einige, etwa für die Lyrikerin Anneke Brassinga, sind es Gelegenheitsgedichte, die „rein in diesem Augenblick“ bestehen würden und die sie niemals publizieren, auch im Nachhinein nicht mehr verändern würde. Andere wiederum nehmen die Gedichte als Teil des Werks in ihre Lyrikbände auf.
Das Einsame Begräbnis habe weniger mit dem Tod zu schaffen, als mit dem Leben von hunderten Bewohnern der Stadt, schreibt Maarten Inghels in seinem Nachwort. Denn man hätte es nicht nur mit den Verstorbenen zu tun, sondern auch mit Hinterbliebenen, die ihre tiefsten Gefühle durch ein Ritual trösten würden. Doch warum die Form des Gedichts? Gedichte bezeugen, wie wir mit dem Tod umgehen, aber auch mit dem Leben, so Inghels:
Wer zurückbleibt, sucht nach Worten, um zu beschreiben, was geschehen ist. Wir brauchen die Sprache, damit wir versuchen können, das, was wir nicht verstehen, was unser Geist nicht begreifen kann, doch zu formulieren. Ich bin davon überzeugt, dass Poesie hierfür das geeignetste Instrument ist.
Das Gedicht „Deine Reise um die Welt in vierundvierzig Tagen“ sei hier als ein Beispiel zitiert. Es wurde verfasst von Maarten Inghels und gelesen auf dem Einsamen Begräbnis des oben erwähnten Jayson N., der im Alter von 44 Tagen verstarb:
Deine Reise um die Welt in vierundvierzig Tagen:
Rumänien, Serbien, Italien, Paris, Lüttich, Edegem,
in Wilrijk, Antwerpen, ein weißer Sarg, das Nichts.Und das, obwohl zwischen Wiege und Grab grosso modo
ein längeres Leben passt. Du wächst auf, hast es verdient,
dich zu verlieben an einem Strand bei Barcelona,das Nordlicht in Norwegen zu entdecken,
bekommst ein Kind, oder zwei, oder drei, für die
du Wiegenlieder singst – und erst danach Neapel sehen.Nicht das hier. Wir wollten eine Chance, mit dir zu reden
über deine zwei Namen, den Geruch dutzender
Städte in deinem Blut, über Sonne, Mond und Sterne.Nicht das hier: zahnlos noch und schon verlorener Sohn Europas,
mit deinem unbekannten Ausweis und dem zerbrochenen Kompass,
zwei Eltern und ihrem Verlust, Anschrift unbekannt.
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