Gedichtfelder
Polder sind neues, dem Meer abgerungenes, eingedeichtes Land, dessen Bodenniveau häufig unter dem Wasserspiegel benachbarter Gewässer liegt. Polderpoesie sei demgemäß Lyrik, die Neuland schaffe, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, Neuland, das in der nun vorliegenden Anthologie lesend betreten werden kann.
Die Vorarbeiten zu diesem Buch begannen 2013. Auswahlkriterien waren u.a., dass beiden vertretenen Poesieräumen, Flandern und den Niederlanden, etwa gleich viel Platz eingeräumt werden sollte. Das Wort „jung“ wurde mit „geboren ab 1973“ bestimmt, was beim Start des Projekts 2013 “nicht älter als 40 Jahre“ bedeutete, die jüngsten Teilnehmenden sind 1988 geboren. Herausgekommen ist ein rund 350 Seiten starkes Kompendium jüngerer Lyrik aus den Ehrengastländern der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, das durchgehend zweisprachig gestaltet ist und durch ein kurzes deutsches Vor- und ein längeres Nachwort ergänzt wird, welches u.a. auch auf den Stellenwert der Lyrik in beiden Ländern eingeht.
21 Gedichtwelten präsentieren uns Stefan Wieczorek und Christoph Wenzel, wobei die beiden Herausgeber Bedacht darauf nahmen, Dichterinnen und Dichter annähernd gleich häufig zu berücksichtigen. Alle Beiträger_innen haben schon jeweils mehrere Werke veröffentlicht, einige darüber hinaus bereits Bücher in deutschen Verlagen publiziert. So liegen von der flämischen Dichterin Els Moors der Band „Lieder vom Pferd über Bord“ bei Brueterich Press und vom flämischen Dichter Andy Fierens „Gambaviecher in fetter Tunke“ im Verlag Das Wunderhorn 2016 neu vor. Vom flämischen Dichter Maarten Inghels erschien schon 2013 der Auswahlband „Es gibt keine bellenden Hunde mehr“ bei hochroth, vom niederländischen Dichter Jan-Willem Anker 2009 der Auswahlband „Hungry Fish“ in der parasitenpresse.
Das vorliegende Werk zeichnet sich durch große Sorgfalt in der Zusammenstellung und verlegerische Großzügigkeit aus, die der wohlwollende Förderung einiger, im Vorwort erwähnter Institutionen zu verdanken ist. Da ist nichts dicht gedrängt, sind die einzelnen Abschnitte mit einem Zwischenblatt, das den verspielten Namenszug der Lyrikerin oder des Lyrikers und, etwas kleiner, jenen der Übersetzenden trägt, übersichtlich gegliedert. Jede Gedichtseite trägt zusätzlich am Rand den hellgrau gedruckten Namen der Beitragenden, was es erlaubt, das Buch irgendwo aufzuschlagen oder beliebig darin zu blättern, zu lesen und sofort zu wissen, von wem das jeweilige Gedicht ist. Und ja, ich würde mir, wie gewiss viele andere auch, wünschen, dass öfter Lyrikbände in solch achtsamer Aufmachung erscheinen könnten, seien es Sammelbände oder Werke einzelner DichterInnen.
Das Ordnungsprinzip der Anthologie ist das Alphabet. Sie beginnt mit Jan-Willem Anker und endet mit dem flämischen Dichter Tom Van de Voorde. Alle Beiträge sind Büchern entnommen, die in den letzten Jahren erschienen sind. Es finden sich kurze und sehr kurze neben Langgedichten. Als Stärke dieser lesenswerten Zusammenstellung werte ich die Vielstimmigkeit und auch, dass von fast allen Beitragenden mehrere Texte aufgenommen wurden. Allein von der niederländischen Dichterin Annemarie Estor sowie dem niederländisch-palästinensischen Dichter Ramsey Nasr ist nur je ein mehrere Seiten messendes Langgedicht abgedruckt. Anthologien sind Sammelwerke, in denen üblicherweise auch weniger gelungene Texte zu finden sind. Deshalb überrascht in „Polderpoesie“ die durchgehend hohe Qualität der aufgenommenen Beiträge. Es ist nicht möglich, alle 21 DichterInnen im Rahmen einer Rezension vorzustellen, weshalb ich drei für mich markante Positionen aufgreife, um einen Einblick zu geben:
Politik und Gedicht? Bei dieser Verbindung mögen sich manche vielleicht pikiert abwenden, für die das Gedicht nicht der richtige Platz für politische Auseinandersetzungen ist, Menschen, die ein politisches Gedicht schnell mal als Werk mit Pamphletcharakter oder als Gesinnungsdichterei abtun. Doch in einer Zeit der Distanzierung von einem gemeinsamen Ziel Europa und einer zunehmenden Sehnsucht nach dem Wiedererstarken von Nationalstaaten kann schon die Zusammenstellung einer Anthologie ein politisches Zeichen sein. Denn was ist „unser“, was das Fremde, wo beginnt das Ausland, wer wird zum Fremden gemacht? Und ist diese Auseinandersetzung vielleicht auch in den Texten eingeschrieben? Hierzu gibt das lesenswerte Nachwort von Stefan Wieczorek einige Einblicke. So plädiere der Pressesprecher einer flämisch-nationalistischen Partei dafür, Lyrik aus Flandern als affirmative Fortführung eigenständiger Traditionslinien zu sehen, denn für die flämische Lyrik seien bereits die Niederlande Ausland. Wir kennen diese und ähnliche Argumentationslinien durchaus auch aus vielen anderen Ländern Europas. Maud Vanhauwaert hingegen, eine flämische Dichterin und Textperformerin, die Poesie auch auf die Straße bringe und z.B. an einer Ampel wartenden Passanten ihre Gedichte vortrage, werde trotz gemeinsamer Sprache schon in Amsterdam wegen ihrer flämischen Redensarten und Idiome nicht verstanden und als fremd wahrgenommen, und komme manchmal gerade deshalb mit den Zuhörenden ins Gespräch. In ihren von Waltraud Hüsmert übersetzten Gedichten der Anthologie lässt sich dies natürlich nicht nachvollziehen. Es sind genaue, manchmal äußerst originelle Beobachtungen, etwa, dass unsere Ohren
Fragezeichen aus Knorpel
seien, die wir in ihren Texten lesen, und man bekommt dabei richtig Lust, die Dichterin live zu erleben. In einer Traumsequenz aus der Kindheitszeit heißt es:
In unsren Träumen laufen wir auf Stelzen / übers Elternhaus, ... / und über den Weg, den wir zur Schule gin- / gen: vorbei am Kremationsladen neben dem / Eiskremladen. Ich verwechselte Apokalypse / mit Calippo. Vielleicht lag damals alles näher / beisammen, auch unsere Eltern
Da werden Gedanken festgehalten, die beim Anblick eines Fotos hochkommen:
Denk an das Kinderfoto von meinem Vater, / verblasst durch das Sonnenlicht und wie er / selbst: verzogen von der Zeit. Runzeln zie- / hen die Jahre gnadenlos zusammen.
Und in einem weiteren Gedicht lesen wir:
Sie sagt, ... Dass wir flexibel / sein sollen wie ein Verb, das sich den / Menschen und der Zeit anpasst. Und dass / wir unsere Gedanken verrücken sollen, wie / wir das manchmal mit Möbeln machen: um / den Staub zu sehen, der darunter liegt
Alfred Schaffer hingegen ist ein niederländischer Dichter, der seit längerem in Südafrika lebt. Es sind andere (Traditions-) Zusammenhänge und Inspirationsquellen, die seine Gedichte färben und durchdringen.
Was sehe ich, wenn ich in den Spiegel schaue? Eine wogende Reflexion
der Reflexion einer Reflexion.
Ich nenne das den Droste-Effekt
Sie nennen es Symbolik.
In seinem längeren Gedicht „Harte Tatsachen über Shaka das bedeutet harte Tatsachen über mich“, das sich auf den Roman eines südafrikanischen Autors bezieht, thematisiert er die Bedeutung Afrikas für Afrika selbst, für die Welt und das einzelne Individuum.
Afrika (ist) das Waisenkind der Weltwirtschaft
lesen wir, doch davor das relativierende Wort „Vielleicht“, denn es gibt keine einfachen Antworten, auch nicht in Schaffers Gedichten, die manchmal wechselnde Biographien und Verantwortungen an- und ausprobieren und den komplexen politischen Verhältnissen und Überforderungen nachspüren.
Ich bin ein Projektionsschirm, ein schwarzer Krieger
mit dunkelbrauner Haut und einer durchschimmernden Seele.
Auf meinem Profilfoto bei Facebook posiere ich als Napoleon
mein Fuß ruht auf dem Kopf eines Untertans.
Vom flämischen Dichter Maarten Inghels wurden neben anderen auch zwei seiner Totengedichte in die Anthologie aufgenommen. Er koordiniert das literarisch-soziale Projekt „De eenzame uitvaart / Das einsame Begräbnis“ in seiner Heimatstadt Antwerpen, bei dem DichterInnen stellvertretend für die Gesellschaft zu Ehren von einsam Verstorbenen Gedichte verfassen und beim Begräbnis vorlesen. In sein Gedicht „Eine Moschee“ mit der Widmung „Für Elhassan Ougfa (1974-2008) nahm er Details aus der kargen Bleibe des Verstorbenen auf, was zu Herzen geht. Und im Gedicht „Soviel Aufmerksamkeit waren Sie wohl nicht gewöhnt“, das dem toten Nguyen Van Kham (1954-2010) gewidmet ist, dessen Leichnam beim Auffinden bereits mumifiziert war, heißt es durchaus gesellschaftskritisch:
Wir haben versagt, gebe ich ohne Weiteres zu, haben Sie erst
beim Ausbleiben Ihres Geldes überhaupt bemerkt.
Sogar mit Ihrem jahrelangen Schweigen über den Tod
hinaus, hätten wir wissen müssen, wer Sie sind.
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Anmerkung der Redaktion:
Mit Beiträgen von Jan-Willem Anker, Maria Barnas, Tsead Bruinja, Anne Büdgen, Yannick Dangre, Ellen Deckwitz, Annemarie Estor, Andy Fierens, Maarten Inghels, Ruth Lasters, Delphine Lecompte, Thomas Möhlmann, Els Moors, Ramsey Nasr, Ester Naomie Perquin, Alfred Schaffer, Mustafa Stitou, Max Temmermann, Vrouwkje Tuinman, Maud Vanhauwaert und Tom Van de Voorde. Übersetzungen von Waltraud Hüsmert, Ard Posthuma, Gregor Seferens, Rosemarie Still, Stefan Wieczorek. Herausgegeben von Stefan Wieczorek und Christoph Wenzel
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