Die Liebe zur Welt oder Weiterdenken mit Hannah Arendt
In der Einleitung zu ihrem Buch Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken zitiert die Politikwissenschaftlerin Maike Weißpflug den italienischen Schriftsteller Italo Calvino mit dem Satz, jede Lektüre sei ein erneutes Lesen und das Umstrittensein ein genuines Merkmal der Klassiker, weil sie immer wieder zu neuen Deutungen herausfordern würden. Auch Hannah Arendts Werk, so Maike Weißpflug, habe in diesem Sinn schon viele unterschiedliche Interpretationen erfahren, die Arendts Ansatz nicht immer gerecht geworden seien.
Doch Hannah Arendts eigene, sich akademischen Diskursen widersetzende Art zu denken, ist gerade das, was sie für Maike Weißpflug interessant macht. Das Buch, so schreibt sie, unternimmt den Versuch, Arendt als Denkerin in ihrem eigenen Recht zu sehen. Denn das Besondere am Werk Arendts sei, dass es sich hier nicht um eine rein begriffliche – oder definitorische – Theorie des Politischen handelt, sondern um Denkübungen und den Versuch, im Denken eine bestimmte Haltung zur Welt einzunehmen. Und so wird auch im Klappentext zu dem Buch betont, dass gerade heute ihre Überlegungen zu Freiheit, Unterdrückung und Flucht zunehmend gehört werden.
Folgerichtig steht in Arendts Diskursen die Pluralität der Perspektiven im Zentrum. Dabei greift sie auch auf Literatur zurück, und Maike Weißpflug meint, ohne die Lektüre von Franz Kafka hätte sie den neuartigen Charakter der totalen Herrschaft vielleicht nicht so beschreiben können.
In drei Teilen erläutert die Autorin ihre Herangehensweise an Hannah Arendts Denken.
Im ersten Kapitel Unabhängiges Denken geht sie auf Arendts Ansatz ein, für den öffentlichen Raum und somit für die politische Wahrheit Pluralität und Multiperspektivität einzufordern. Auf der Suche nach einer neuen Grundlage der Moral setzt sich Arendt mit der Erfahrung des Traditionsbruchs auseinander, der für sie im Zivilisationsbruch des Holocaust gipfelt. Für einen Neuanfang im Denken benutzt sie den von Walter Benjamin abgeleiteten Begriff „Perlentauchen“, der impliziert, sich nicht komplett von der bisherigen Ideengeschichte abzuwenden, sondern sich die „Perlen“ bisherigen fortschrittlichen Denkens für den eigenen Blick auf die Welt nutzbar zu machen. Ein Schwerpunkt dieses ersten Kapitels ist die für Arendts Denken wesentliche Beschäftigung mit der „Judenfrage.“ An den Beispielen der Parias Rahel Varnhagen, Heinrich Heine, Bernard Lazare, Charlie Chaplin und Franz Kafka stellt sie die Frage, welche Haltung ein Jude – oder, allgemeiner gesprochen: der Einzelne – zur Welt einnehmen soll und kann und wie die moderne Welt so eingerichtet werden kann, dass alle einen Platz in ihr finden.
Sehr interessant ist in diesem Abschnitt des Buches auch das längere Kapitel über Arendts Interpretation des Lachens, wobei Maike Weißpflug feststellt, Arendt lachte, wo anderen das Lachen im Halse stecken blieb. Natürlich geht es dabei hauptsächlich um Arendts Darstellung des Eichmann-Prozesses und ihre berühmte und heftig angegriffene Formulierung der Banalität des Bösen. Karl Jaspers, der seine Schülerin gegen Angriffe in diesem Zusammenhang verteidigte, deutete Arendts Lachen als direkten Ausdruck ihrer Unabhängigkeit, es sei, wie Maike Weißpflug ergänzt, die Weigerung, sich als Opfer zu begreifen und im Schrecken zu verharren. Gleichzeitig sieht es Arendt bei allem, was sie schreibt, als ihre Aufgabe an, zu sagen, was ist, selbst wenn es beispielsweise um Kritik am Verhalten der Judenräte geht.
Diesen Maßstab legt sie auch an die im zweiten Kapitel Literatur und Politik besprochenen Texte an. Literatur sei, so Maike Weißpflugs These, für die Entwicklung von Arendts Denken fast wichtiger als die philosophische Ideengeschichte. Wobei es Arendt nie nur um Definitionen politischer Phänomene ging, sondern vor allem auch darum, wie totalitäre Herrschaft, Imperialismus oder Politik generell betrachtet werden können. Maike Weißpflug beschreibt hier wie Hanna Arendt anhand von literarischen Beispielen (Homer, Kafka, Conrad, Melville und Brecht) politisch/philosophische Kategorien wie Totalitarismus, Traditionsbruch, Weltverlust, Urteilskraft und Engagement auffächert. Die Kapitel über Joseph Conrads Herz der Finsternis und Bert Brechts Maßnahme zeigen am Beispiel dieser widersprüchlichen und oft kritisierten Texte besonders gut Arendts Anspruch, Dichter sollten auf jeden Fall die Wirklichkeit darstellen.
Von diesen literarischen Texten ausgehend beschreibt Maike Weißpflug das Neue an Arendts Darstellungsweise, weil Arendt nämlich im Gegensatz zu ihren akademischen Kollegen ihre politischen Betrachtungen ebenfalls narrativ erörtert und auf diese Weise reflektierend beurteilt. Maike Weißpflug nennt das Engführung von Erzählen und Urteilen. Weiter schreibt sie, und da wird wieder Arendts Neuanfang des Denkens deutlich: Arendts storytelling stellt eine Strategie der Öffnung dar: Ihre Erzählungen schließen ungewohnte Perspektiven auf und holen verschüttete Erfahrungsdimensionen an die Oberfläche.
Limitiert denken lernen heißt der dritte Teil des Buches. Darin untersucht die Autorin, inwiefern sich Arendts Gedankenwelt auf unsere Gegenwart beziehen lässt, eine Gegenwart, die Wissenschaftler als Anthropozän – das Zeitalter des Menschen - bezeichnen, weil dessen Einfluss auf die (negativen) Veränderungen der Erde größer sei als die natürlichen Kräfte. Hannah Arendt hat zwar das Zerstörerische der Atombombe mitbekommen, aber von den politischen Verwerfungen der Globalisierung, dem Klimawandel und den damit zusammenhängenden Naturkatastrophen, der Entwurzelung von Millionen Menschen konnte sie nichts wissen. Und doch bezieht sich Maike Weißpflug in ihrem Schlusswort auf Hanna Arendt, indem sie sehr engagiert dafür plädiert, inspiriert von Arendt, Politik im Anthropozän so fragmentiert, ungleichzeitig und vielgestaltig zu denken wie sie ist.
In ihrer auch für Nichtwissenschaftler sehr interessanten Untersuchung wirft Maike Weißpflug einen neuen Blick auf Hannah Arendt. Sie zeigt eine Frau, die sich keinen normativen Strukturen unterwirft, die politische Theorie mit narrativem, sinnlichem Schreiben verbindet, weil ihr Denken ohne Geländer wichtig ist.
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