Hülle und Fülle
In Graz sind gleich zwei wichtige Literaturzeitschriften Österreichs beheimatet. Die „manuskripte“, 1960 vom Schriftsteller Alfred Kolleritsch gegründet, und die jüngeren „Lichtungen“, die 1979 vom Schriftsteller Markus Jaroschka gegründet wurden, letztere eine „Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik“, die junge AutorInnen fördert, zugleich namhafte SchriftstellerInnen publiziert und KünstlerInnen und –kollektive vorstellt.
Würde man ein Generalthema für viele Beiträge der aktuellen Lichtungen ausmachen wollen, dann wäre es die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Ein herausragender Text ist „Nikolai Broka“, der Auszug aus einer Erzählung von Ulrike Anna Bleier, in der ein „Ich“ zwischen Warten und Rauchen, Beobachten und Rauchen, hilflosen Gesten und Rauchen den Krankenhausaufenthalt des Vaters und sein sich hinziehendes Sterben begleitet, das andere Vorhaben wieder und wieder verschiebt.
Ich denke an Nikolai Broka, den ich verführen werde, sobald mein Vater tot ist und ich wieder in die andere Stadt abreise.
Bleiers sorgfältig gearbeiteter Beitrag ist im Hier und Jetzt verankert, lässt in sparsamen Rückblenden das Verhältnis der Ich-Person zu ihren Eltern anklingen und erfreut durch schön verwobene kleine und kleinste Motive.
Ebenfalls hervorzuheben ist die Geschichte „Und auch ein Hund“ von Konrad H. Roenne. Im Mittelpunkt steht ein sehr altes Paar, das außerhalb eines Dorfs wohnt und beim Versuch, zum Gottesdienst in der Kirche zu gelangen, an seine Grenzen kommt. Berührend, wie Roenne hier die zunehmenden Mühen des Alltags und beider Ringen um Würde zeigt.
In Raphaela Edelbauers Romanauszug „Das flüssige Land“ wiederum steht der Tod eines Paares bei einem mysteriösen Autounfall im Mittelpunkt. Die Fahrt der ein wenig neben der Spur seienden Tochter nach Groß-Einland, um das Begräbnis zu organisieren, und eine angedeutete Stadt-Land-Problematik lassen Neugier auf den fertigen Roman aufkommen.
Und der ungarische Autor István Vörös legt Gedichte vor, die das Sterben und den Tod des Vaters thematisieren und dabei den Grundton des melancholischen Nihilismus anschlagen.
Außerdem werden zwei dieses Jahr Verstorbene gewürdigt, zum einen die bildende Künstlerin Irmgard Schaumberger, zum anderen die Schriftstellerin Emily Nasrallah, deren ruhige Geschichte „Sommerbrise“ (aus „Die Frau in 17 Geschichten“, Beirut 1984, Übersetzung: Hartmut Fähndrich) über den Einbruch des Fremden in Gestalt der jungen Maxine in ein arabisches Dorf erzählt.
Wie in jeder Sammlung gibt es auch Alles-wie-gehabt-Prosa (© Timo Brandt) und vereinzelt wenig Überzeugendes. Hier sei Rudolf Aubrunners „Ausschnitt aus dem Monolog des Doktor Dunkler“ mit dem Titel „Der Ernst des Sterbens“ erwähnt, der verquatscht und sprachlich schlicht als erster Teil einer Romantetralogie angekündigt wird, eine Drohung angesichts des vorgelegten Beitrags. Und die Gedichte von Sonja Harter sprechen für sich:
im inneren dieser gedichte
streiten die synästhesien,
ordnen einander, schräg abfallend,
falsche bilder zu.
Abgerundet werden diese „Lichtungen“ mit zwei Essays. Peter Strassers kurzweiliger Text erzählt vom Lesen und Rezensieren dicker Bücher, vom Prokrastinieren sowie von Leselangeweile. Radka Denemarková wiederum gibt, übersetzt von Kristina Kallert, interessante Einblicke in ihre Annäherung an das Werk von Herta Müller, das sie ins Tschechische übertrug. Ihr Beitrag bildet eine stimmige Klammer zum Schwerpunkt dieser Ausgabe. Denn was die „Lichtungen“ seit vielen Jahren auszeichnet, sind die sorgfältig gestalteten Länderhefte, die uns unbekannte Literaturen näher bringen.
Diesmal widmet sich die Literaturzeitschrift der Poesie aus Rumänien, ausgewählt und übersetzt von Alexandru Bulucz. Er zeigt seinen Querschnitt durch die neuere Lyrik der jüngeren SchriftstellerInnengeneration. Je sechs Lyrikerinnen und Lyriker wählte er aus (Durchschnittsalter rund 37 Jahre), die von der ab 1990 in Gang gesetzten Öffnung des Landes u.a. deshalb profitierten, weil ihre literarische Sozialisation nicht mehr auf den eigenen Kanon beschränkt war. Sie haben in ihrem Kunstschaffen die Jahre des Ceauşescu-Regimes hinter sich gelassen, die zuweilen noch zwischen den Zeilen hochkriechen, und schreiben, so Bulucz, pathosärmer, realistischer, aufklärerischer und europäischer als ihre VorgängerInnen.
In vielen Gedichten begegnen wir einer fatalistischen Grundstimmung, die zwischen Melancholie und Depression changiert und manchmal in Gewalt mündet. Livia Ştefan (*1982) nennt dies in ihrem poetischen Dialog mit der fiktiven Figur Laura Palmer aus Twin Peaks „die schmutzige Folie der Katerstimmung“, durch die ein nüchterner, einsamer und manchmal verzweifelter („fuck you and fuck-off“) Blick auf Welten geworfen wird:
die Welt redet über Kriege und Flüchtlinge
wir leben in einem Land in dem das Essen teurer wird als Drogen es ist schon
teurer als Drogen
haben mechanischen und traurigen Sex und denken an andere Dinge
daran wie müde wir gerade geworden sind
In den Gedichten von Svetlana Cârstean (*1969), der ältesten Lyrikerin dieser Auswahl, sei „[d]as „Geschichtstrauma ... noch vorhanden“, so Bulucz. Die Texte setzen sich mit dem kommunistischen Rumänien auseinander, kreisen um den Zwiespalt zwischen Fortgehen oder Dableiben und setzen sich mit Verlusten und Generationenkonflikten auseinander.
Vergesst alles, ihr undankbaren Töchter,
geboren am Ende der alten Revolutionen,
brennt das eigene Gedächtnis nieder und jegliche Erinnerung
an das was nicht ihr selbst erfahren habt
an das was keiner euch berichtet hat
an das was ständig euch berichtet wurde
brennt das eigene Gedächtnis nieder
und auch das unsrige
Und sie bezeugen Auflehnung und Unbeugsamkeit, etwa wenn Cârstean dichtet:
ich
bin ein starkes Mädchen das
nicht aufhört zu springen
„[W]oraus erwachsen Wurzeln?“ könnte man als Schlüsselfrage für die wuchernden Gedichte von Andra Rotaru (*1980) bezeichnen. Es sind Collagen aus Texten unterschiedlichster Quellen, etwa aus Sachbüchern und wissenschaftlichen Publikationen sowie literarische Zitate, darunter ein Gedicht der amerikanischen Lyrikerin Susan Howe, Sätze des britischen Schriftstellers Aldous Huxley oder des russisch-britischen Philosophen Isaiah Berlin, wobei insbesondere dem Bezug zu Tanz und Musik Raum gegeben wird. Rotaru verbindet und erweitert ihre Funde mit eigenen Texten und kreiert mit großer Präzision hybride Gebilde, die sich unter anderem dem Entstehen von „Körpererfahrung“en poetisch annähern.
Auch in den wortkargen Gedichten von Bogdan Coşa (*1989) gibt es Anklänge an Begriffe der Musik und zuweilen litaneiartige Passagen, wenn er zum Beispiel den wiederkehrenden Satz „(und) es gibt keinen Frieden“ umspielt. Für die poetische Prosa von Krista Szöcs (*1990) hingegen spielen moderne Tracks eine Rolle, etwa jene von Blixa Bargeld, Nick Cave oder Olafur Arnalds. Ştefan Manasia (*1977), Teodora Coman (*1976) und Claudiu Komartin (*1983) wiederum greifen aktuelle politische Ereignisse und Entwicklungen auf. Die Texte von Radu Găvan (*1978) spiegeln Rat- und Hilflosigkeit, erinnern an die Zeiten der Diktatur, zeigen menschliche Bestialitäten auf oder geben der Angst vorm Tod im Krankenhaus Raum. Und Ruxandra Novac (*1980) fasst heutige Neurosen sowie das allgegenwärtige Schweigen in Worte und Wortbilder und stemmt sich Glückszuschreibungen entgegen:
wir sind die Arbeiter und unsere Hände bauen die Welt auf
wir sind die Glücklichen auf dieser Welt wisst ihr das nicht dass
wir die Glücklichen auf dieser Welt sind wir haben Hunger wir wissen
wissen alles unser Herz sammelt alles auf
Nicht überzeugen mich hingegen die Gedichte von Vlad Drăgoi (*1987), den Bulucz „als Schönheitssuchende[n] im Hässlichen“ bezeichnet. Sein Thema ist die Flucht eines Einsamen in die Ablenkung, zeigt sein Verrücken zwischen „Assassin’s Creed: Brotherhood“ und „Actionfilm[en] mit Horrorelementen“, angereichert mit ein bisschen Larmoyanz, einer Portion wahnhafter Angst und ein paar Kraftausdrücken. Und manchmal drängt sich die Frage auf, warum uns Sätze wie diese interessieren sollten:
so habe ich seit 8 Jahren eine Krampfader am Bein die mich zerfickt
immer mehr
Drăgoi bleibt an den Oberflächen, bildet in seinen Texten Gewalt ab, empathielose Aggression. Er bedient sich dabei eines umgangssprachlichen Redens, das ungenau und unterkomplex sich manchmal an ein „du“ wendet, doch stets ein Zwiegespräch mit sich selbst bleibt und langweilt.
Zuletzt seien noch die Gedichte von Dan Coman (*1975) erwähnt, die aus der Perspektive eines vierzigjährigen Mannes auf die Welt blicken und eine fatalistische Zwischenbilanz ziehen. Sein Gedicht „ich bin der der ich nicht bin“ ist leider auch das einzige, das „eu sînt cel ce nu sînt“ auf rumänisch abgedruckt ist. Und das ist schade, auch wenn es einleuchtet, dass der zweisprachige Abdruck aller Gedichte den Rahmen des Heftes gesprengt hätte.
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