Anzeige
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
x
ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Zurückhaltung im Dienst der Tiefe

Hamburg

Einsame, Alte, Sterbende, diejenigen, die normalerweise niemand sieht, sind die Protagonisten der Gedichte in Michael Hillens jüngsten, im Pop Verlag erschienenen, Gedichtband „Antonia und andere Frauengeschichten“. Unterteilt in zwei Kapitel erzählt der Bonner Lyriker hoch verdichtete Frauenschicksale.

Im ersten Kapitel „Vor der Fahrt“, sind es Frauen, die sich für die letzte Reise bereit machen. Das erste Gedicht („Die Fahrt“) ist programmatisch. Alles darin, der Verlust geliebter Menschen, die schmerzende Sehnsucht, sowie die Rolle der Zeit zieht sich durch nahezu alle Gedichte.

„[…] das grab schultern des sohns möchte sie
und auch die kleine kammer
in der die zeit stillsteht
als sitze ihr mann, eine lupe vors auge geklemmt,
noch immer über einem murrenden
zeiger, einer meuternden unruh –
ihr stetes heimweh
schon vor der fahrt

Die Uhr, in diesem Gedicht geschickt nutzbar gemacht, um hinter einem scheinbar einfachen Bild vielfältige Bezüge zu eröffnen, wird dem Leser immer wieder einmal begegnen, in all ihrer Unmöglichkeit, die Zeit zu messen, geschweige denn zu bewältigen.  

Scheitern und ausweglose Trauer ist in den Gedichten zu spüren, weil das Leben nur noch ein Warten auf den Tod ist, wenn keiner mehr da ist zum Reden, oder Reden nicht länger gelingt und Schweigen nur ein anderes Wort ist für die Unmöglichkeit, sich mitzuteilen.

Anhand sorgfältig aufeinander abgestimmter Wortfelder gelingt es Hillen, Persönlichkeiten zu zeichnen, die sowohl lebenssatte Tiefe als auch bodenlose Hintergründigkeit entfalten. Als Teile dieser Lebensgeschichten schreiben sich ganz en passent, fast unbemerkt, Männer in die Frauengeschichten ein, als Fehlende zumeist, als Tote und Vermisste.

Dabei haucht Hillen Gemälden und Fotografien, historischen Persönlichkeiten und den einfachen, unscheinbaren Frauen von nebenan gleichermaßen Leben ein. Die Gedichte machen tatsächlich keinen Unterschied zwischen Mona Lisa und der titelgebenden Antonia, die ein einfaches bäuerliches Leben führte, das sie kaum jemals mehr als ihr Dorf sehen ließ. Diese zutiefst aufrichtige Gleichbehandlung von allem, was er sieht und beschreibt, ist ungeheuer wohltuend, in seiner Ruhe und tiefen Weisheit, nahezu heilend in einer scheinbar immer aggressiveren Welt, in der scheinbar kein Lebensbereich von Konkurrenz und Wettstreit verschont zu bleiben scheint.  

Der zweite Teil, überschrieben mit „Feine Falten“ zeichnet sich durch eine Perspektivänderung aus. Die feinen Falten stehen nach wie vor für das Fehlen, das fundamental für nahezu alle Gedichte dieses Bandes ist. Aber nun sind es die Frauen, die im ersten Kapitel noch vor der Fahrt gestanden haben, die vermisst werden. So in „dritte woche“, einem berührenden Gedicht von einem Fluss, der mit Trauer das Ausbleiben der einsamen Frau registriert, die ihn täglich besuchte.

Überhaupt versteht es Hillen vorzüglich Zwischenräume nutzbar zu machen, den Leser zu überraschen und unerwartete Pointen zu entwickeln. Besonders eindringlich sicher bei dem Gedicht „die verrückte“, in dem Hillen die Geschichte einer vermeintlich verrückten Frau erzählt. Allerdings berichtet sein Gedicht die Geschichte so, dass die Rollen der „Normalen“ und der „Verrückten“ ins Schwanken geraten und der Leser sich unweigerlich fragen muss: wer ist hier eigentlich verrückt? Das Besondere der Gedichte in diesem Band ist, dass aus den Zwischenräumen heraus erzählt wird, als läge die eigentliche Geschichte unter einem mit ein wenig gutem Willen leicht zu lüftenden Schleier.

Der Ort von Michael Hillens Gedichten, schrieb Stefanie Golisch, „ist die Schwelle“. Das ist sehr treffend. Denn Hillens Gedichte sind weit davon entfernt, rätselhaft zu sein, vielmehr offenbaren sie die Tiefe, die sich hinter einer schnell abgeurteilten Oberfläche verbirgt. In vielen Gedichten gelingt es Hillen die Ahnung eines langen, wechselvollen Lebens in wenigen Zeilen aufscheinen zu lassen, und damit gleichsam ein Tor zu öffnen, die Schwelle zu offenbaren, an der Schönheit und Grausamkeit der Vergänglichkeit sich zugleich zeigen. Alle Gedichte sind gezeichnet durch ein tiefes Verständnis und vielleicht sogar Einverständnis mit der Ambivalenz des Lebens.

Nicht nur diese melancholische Stille, sondern insbesondere die Zurückhaltung Hillens ist angenehm unzeitgemäß. Seine Sprache, aber mehr noch das, was sie in den Blick nimmt. Hillen selbst hält sich als Dichter mit Wertungen zurück, vielmehr stellt er seine Gedichte ganz in den Dienst der Beobachtung. So entstehen kleine Meditationen, sehr genau beobachtete Momentaufnahmen, die gleichzeitig weit unter die Oberfläche eines flüchtigen Blicks vordringen. Zurückhaltung im Dienst der Tiefe könnte man sagen.

Dabei ist der schmale Band genau durchdacht. Nichts ist Zufall, vielmehr besticht die Sammlung durch genaue und stimmige Komposition. Den Grundton bildet dabei das Ausgesparte, insofern ist die Beschreibung einer Radierung von Käthe Kollwitz, ein Hinweis auf das Geheimnis von Hillens eigener Arbeitsweise.

„eingesickert auch diese zeichnung,
eingesickert ihre kohle,
und der schrecken
des ausgesparten darin“

Zärtlichkeit legt sich über das Ausgesparte in Hillens Gedichten. Ihre zurückhaltende, liebevolle Beobachtung verbindet sich tröstend mit der Melancholie des Geschilderten. Eine Ambivalenz, die das Leben ebenso schön wie traurig macht, ebenso wertvoll wie zuweilen unerträglich.

Michael Hillen
Antonia und andere Frauengeschichten
Pop Verlag
2018 · 80 Seiten · 14,50 Euro
ISBN:
978-3-86356-195-6

Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge