Burn She-Devil, Burn
Was sich im englischen Sprachraum „New Weird“ nennt, findet in der chilenischen Literatur sein Äquivalent in der „Freak Power“-Bewegung. So verwundert es nicht, dass der Mikrokosmos, den Mike Wilson in seinem kurzen Nachtstück „Rockabilly“ (Übersetzung: Mário Gomes ) entwirft, ein wenig an die schrägen Universen eines China Miéville erinnert: Fantastik, Horror, Philosophie, Psychoanalyse und Popkultur geben sich auf knapp 100 Seiten ein bizarres Stelldichein. Trash meets Žižek, sozusagen.
Wilson ist Argentinier; heute lehrt er in Santiago de Chile Literatur. Einen Großteil seiner Kindheit und Jugend hat er jedoch in den USA verbracht, und die profunde Kenntnis suburbanen Ennuis merkt man „Rockabilly“ an: In einer namenlosen Vorstadtsiedlung schlägt eines Abends ein Meteorit ein. Sein Lichtblitz wird zum Kristallisationspunkt verschiedener Charaktere, die einander bis zum Morgengrauen in immer enger werdenden Schleifen umkreisen. Da ist zum einen der Titelheld Rockabilly, ein vorbestrafter Schrottsammler, in dessen Garten das kosmische Gestein gelandet ist. Sofort macht er sich daran, nach dem Brocken zu graben, in der Hoffnung, ihn teuer verkaufen zu können. Tatsächlich wird er während der gesamten Novelle nichts anderes tun, als sich immer tiefer in sein eigenes Grab hineinzuschaufeln, „wie ein Automat, wie ein Zombie mit einem einzigen Auftrag“. Von außen zu sehen ist lediglich sein entblößter Rücken, auf dem ein Pin-up-Tattoo im Mondlicht ein unheimliches Eigenleben entwickelt.
Begehren und Identifikation verschmelzen, als Suicide Girl, das 15-jährige Nachbarsmädchen, ans Fenster tritt. Während sie Rockabilly (oder das Pin-up-Girl auf seinem Rücken?) anschmachtet, schwillt ihre linke Brust an, und Milch quillt heraus. Derweil zieht eine übernatürliche Kraft auch Babyface, einen einsamen Dreiundvierzigjährigen, den eine seltene Krankheit wie ein Riesenbaby aussehen lässt, aus dem Haus Als eine unsichtbare Hand „KILL“ an seine Fensterscheibe schreibt, ahnt man, dass diese Nacht kein gutes Ende nehmen wird.
In all dem Chaos, das sich hier entfaltet, behält einzig der Hund Bones, der seit dem Lichtblitz in menschlicher Sprache denkt, so etwas wie Übersicht. Während die Menschen um ihn her ihren entfesselten Begierden, Rachegelüsten und Gewaltfantasien heillos unterliegen, gewinnt ausgerechnet das Tier für ein paar Stunden Distanz zu seinen Instinkten.
Ein bisschen dick aufgetragen mag der Topos ungezähmter Naturgewalten zunächst erscheinen – zusätzlich zum Meteoriteneinschlag zieht ein Gewitter auf, und natürlich scheint über allem ein mächtiger Vollmond. Jeder Handgriff ist unheilvoll aufgeladen, Belebtes und Unbelebtes dämonisch beseelt: „Gegenüber beugt sich eine alte, wollüstige Eiche über den Bürgersteig, als lauere sie einem zerstreuten Fußgänger auf, Beute, um die Nacht zu füttern.“ Kratzt man jedoch an der Patina bekannter Noir-Elemente, tun sich weitere Ebenen auf, die ganz ohne theoretischen Überbau auf postmoderne Psychoanalytiker und Philosophen von Lacan bis Derrida verweisen. Entgrenzung versus Ablösung, Eros und Thanatos bestimmten Wilsons ekstatischen Reigen.
So nimmt etwa das Leben von Suicide Girls zahmer Echse ein trauriges Ende, doch „für die Dauer eines Augenblicks meine ich zwischen den Strichen der Pin-up-Frau die gewellten Flecken geschuppter Lenden zu erkennen.“ Indes verkörpert das Tattoo mehr und mehr Rockabillys dunklen, unbewussten Willen, der – wortwörtlich – in seinem toten Winkel agiert: „Rockabilly ist die Verzierung, SIE schaufelt, SIE ist diejenige, die nach mir ruft, die mich ans Fenster lockt, um den Mann zu bewundern, der aus ihrer Farbe entspringt.“
Wilsons hohe Kunst: Immer wenn es allzu Mystisch zu werden droht, braucht irgendjemand ganz dringend Zigaretten oder eine Pepsi-Cola. Und nicht nur die gegensätzlichen Pole Roy Orbison und The Cramps bilden das popkulturelle Hintergrundrauschen dieses kleinen, feinen Horrorstücks. Mindestens ebenso oft wie den Vollmond erwähnt Wilson den Wal-Mart-Schriftzug, der die Vorstadtsiedlung erleuchtet und über ihr zu wachen scheint „wie ein Tempel oder Edelstein“ – so die Worte des Hundes, kurz bevor sein Geist erneut in dumpfer Sprachlosigkeit versinkt.
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