Es wird nie wieder alles gut
Unter dem Titel Desintegration – Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen fand am 6.-8. Mai 2016 im Berliner Gorki-Theater jener Kongress statt, kuratiert von Sasha Marinna Salzmann und Max Czollek. Soeben erscheint im Kerber Verlag die nachgeschobene Katalogpublikation dieses in seiner Art wohl einmaligen politisch-künstlerischen "Happenings". (2017 soll es allerdings schon weitergehen, mit einer darauf aufbauenden Veranstaltung.) Mit all den Schwierigkeiten einer solchen Publikation, versteht sich. Denn wer nicht mit dabei war, die zahlreichen Aktionen, Menschen, PerformerInnen und Gesichter live und in situ erlebt hat, vielleicht somit auch Teil des Ganzen war, wird von dieser letztlich kurz greifenden Zusammenfassung (oder ist es ein Bündel Ausschnitte/ Spuren des Geistes?) ausgehend, nur schwer Zugang finden. Möglicherweise ist dieses aber eben auch genau Mittel zum Zweck. Denn "Desintegration", jenes Schlagwort unter dessen aggressiver Konnotation "Aufruf zur Abgrenzung" der Kongress sich hauptsächlich operativ konstruiert, wird in den Schriftbeiträgen des Katalogs (dazu einige Fotografien) beschworen, um nicht zu sagen durchgeführt in Form eines solch erschwerten Zugangs. Immer wieder wird von den verschiedenen BeiträgerInnen latent oder offen den durchschnittlichen nicht-jüdischen LeserInnen angezeigt, dass sie jüdisch sein müssten, um zu verstehen, dass "nie wieder alles gut wird", dass Antisemitismus in Deutschland hochpräsent sei, auch wenn es jene nicht-jüdischen DurchschnittsleserInnen noch nicht im Alltag erlebt hätten. Ganz bewusst erzeugt der Katalog eine schwere Befangenheit und sein Konzept ist, dass er das zu allen Seiten versucht zu initiieren. Denn nicht nur wirkt er bedrohlich auf diejenigen, die eher einem Verständnis sogenannter "normaler" deutscher Identität nachhängen, wenn auch unterbewusst, besonders wenn häufig das Wort "Rache" fällt, sondern er wirkt auch positionserzeugend, d.h. polemisch, auf diejenigen jüdischer Zugehörigkeit, die, wie vielfach dort angesprochen/ angemahnt, ihre eigene Identität ebenso zu finden als Aufgabe noch vor sich hätten.
An dieser Konstruktion einer sogenannten jüdischen Identität baut sich der zweite Rote Faden des Katalogs auf. Indem er zeigt, dass die sogenannte Dritte Generation, zu der u.a. auch die Macher- und viele BeiträgerInnen des Kongresses gehören, um eine gemeinsame Stimme ringt. Und dass sie nicht ausschließlich darin bestehen müsste, sich gegen anderes "abzugrenzen", sondern primär darin, sich erst einmal selbst zu finden, zu begegnen und die Anerkennung der jüdischen Gemeinden anderer Generationen und Herkunft zu suchen. Es geht um eine gewisse Aufkündigung der Ohnmacht vor Diversität einerseits, also hin zu ihrem konstruktiven Verwenden zur Bildung eines neuen großen, mehrförmigem Ganzen, aber auch andererseits um einen Abgesang auf das alte Überkommene, Angeeignete des "Gedächtnistheaters" der deutschen Nachkriegs- bis Jetztzeit. Jenes bekannte Konzept der gegenseitigen Inszenierung einer ausgesöhnten Gesellschaft, in der JüdInnen für etwas herhalten müssten, eben der Aufrechterhaltung des Post-Holocaust-Zustand eines "jetzt ist alles gut". Auch dieses In-Anspruch-nehmen habe die Bildung einer eigenen Stimme/ Identität lange genug ausgebremst und mithilfe des Kongresses und des Katalogs nehmen Salzmann, Czollek und Co jenen unfreiwilligen Pakt zum Anlass, deutlich auszurufen: "Nein, Schluss damit, desintegriert euch!"
In dem auf den Broschurklappen abgedruckten Programmtexten des Kongresses heißt es:
"Der Kongress will einen Raum der Selbstreflexion schaffen, um die Frage nach einer jüdischen Identität in der dritten Generation neu zu verhandeln. Dazu führt er sehr unterschiedliche in Deutschland lebende Gruppen von Juden zusammen: die sowjetischen Migranten, die Einwanderer aus Israel sowie die Juden aus der Gruppe deutscher Überlebender oder Rückkehrer. Durch das Motto Desintegration wollen sich die Organisato*innen bewusst von gesellschaftlichen Zuschreibungen lösen und sich von den Fremdkonstruktionen in Deutschland nach 1945 distanzieren."
Ob alle Beiträge in dem Katalog nun gelungen sind, ob einem das Polemisieren (was mehrheitlich in dem Katalog zumindest geschieht) genehm ist, ob einen ungute Gefühle beschleichen bei den stets mitschwingenden Termini Religion, Gruppe und Grenze, ob man überhaupt eine Meinung hat zum Thema Rache, ob man bashing prinzipiell ok findet bzw. etwas darin sehen kann – das alles ist irgendwo Teil des Ganzen mitsamt aller Irritation. Das Buch ist Zündstoff. Es bietet sich an, mit all seinen Stichen, all seinen Diversitäten. Es ist offen genug, non-hermetisch und seine Ansätze sind ebenfalls vielfältig. Selbst wenn einiges auf schwer nachzuvollziehenden Behauptungen beruhen würde, zwingt es zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit seinem Konzepten, denn es haut einem auf eine Weise etwas Starkes um die Ohren, dass das Hirn automatisch stimuliert/ mobilisiert wird. Vielleicht auch Gefühle.
Fixpoetry 2017
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