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Kritik

Von der Gleichheit des Ungleichzeitigen

Hamburg

Rabenkrähen sind intelligent, scharfe Beobachter und als Aasfresser auf Schlachtfeldern und Richtstätten präsent. Corvus Corone, so die zoologisch korrekte Bezeichnung dieses Rabenvogels, dürfte also -über die Jahrhunderte hinweg – einige Einsichten in das Wesen des Menschen gesammelt haben. Vor allem die Schattenseiten der Geschichte müssten ihm zur Genüge bekannt sein, wenn man einmal davon ausgeht, dass Vögel über so etwas wie ein generationenübergreifendes, kollektives Gedächtnis verfügen.

Es dürfte eine reizvolle Angelegenheit sein, einzelne Kapitel der Menschheitsgeschichte einmal aus dieser „Rabenvogelperspektive“ erzählt zu bekommen. Mina Wolf, die Protagonistin in Monika Marons Roman „Munin oder Chaos im Kopf“ erhält genau diese Gelegenheit. Eine einbeinige Rabenkrähe besucht sie in ihrer Berliner Altbauwohnung, wird allmählich zutraulich und zunehmend gesprächig. 

Nun ist aber das, was diese einbeinige Krähe so raushaut, alles andere als politisch korrekt. Empathie und soziale Verantwortung sind Fremdwörter für Munin, wie Mina den Vogel nach einem der beiden Raben Odins benennt. Für Munin sind Angehörige der Gattung Homo Sapiens -zumindest was den westlich-humanistisch geprägten Habitat angeht – lebensuntüchtige Gutmenschen: Seit dem Holocaust „werft ihr euch schützend über alles, was ihr für schwach und hilflos haltet. Ihr rettet halbtotgeborene Kinder, die dann ein Leben lang gefüttert und gewindelt werden müssen, ohne je ein Wort des Dankes über ihre spastischen Lippen bringen zu können“. Für Munin ist die Sache einfach: „Sterben lassen, was nicht leben kann. So jedenfalls machen wir es.“

Ja, Munin kennt die Abgründe der Menschheit „Wir haben euch seit Hundertausenden Jahren zugesehen. Es gibt keine Grausamkeit, zu der ihr nicht fähig wärt.“ Für die menschliche Zukunft sieht Munin daher rabenschwarz.

Mina Wolf gehen Munins Worte, seine ermattende „Klugschwätzerei“, seine besserwisserischen Prophezeiungen nicht mehr aus dem Kopf. Es wabert da angesichts der politischen Lage im Allgemeinen und dem quälenden Dauergesang einer Nachbarin im Besonderen eine „nervöse, leicht explosive Stimmung,“ die Mina „überall, bei Freunden und Fremden, zu spüren glaubte.“

Während die Journalistin an einem Artikel über den Dreißigjährigen Krieg schreibt, gleicht sie die Geschehnisse von vor 400 Jahren immer mehr mit dem aktuellen Tagesgeschehen ab. Mina vergleicht die Gräueltaten der katholischen und evangelischen Landknechte mit dem Terror der Boko Haram, zieht Parallelen zwischen den Führern der Söldnerheere des 17. Jahrhunderts und den Warlords der Gegenwart.

Die Engführung tagesaktueller Nachrichten mit Cicely Veronica Wedgwoods Buch „Der 30jährige Krieg“ legen eine Gleichheit des Ungleichzeitigen bloß. Dies umso mehr, als Wedgwood ihre scharfsinnige Studie bereits 1938 verfasst hat und angesichts des Hitler-Regimes das Elend der Menschen in diesem schier endlos langen Krieg im Auge hatte, der so entsetzlich viel Leid über die Zivilbevölkerung brachte. Hitlers zukünftiger Krieg und die grauenhafte Maschinerie des Holocausts bildeten das historische Hintergrundgeraune von Wedgwoods Arbeit.

Mina Wolf verliert sich in Wedgwoods Buch, arbeitet nachts und schläft am Tage. Munins krude Menschheitsanalysen verschmelzen immer mehr mit ihren eigenen. Am Schluss legt - so zumindest meine Lesart – der Roman nahe, dass es Minas eigene Gedankenwelt ist, die Munin ihr in den schlaflosen Berliner Sommernächten vorbuchstabiert.

Allerspätestens mit dieser Erkenntnis setzt ein gewisses Unbehagen bei der Lektüre ein: Das hier ausgebreitete Weltbild verträgt sich eben nicht mit dem humanistisch-christlichen Wertekanon unserer Gesellschaft. Es gibt keine Erzählerstimme, die hier korrigierend, relativierend oder wenigstens kommentierend eingreift, da Monika Maron ihre Protagonistin das Geschehen aus der Ich-Perspektive erzählen lässt. Dieses Verfahren lässt die erzählerische Distanz zusammenschrumpfen. Ist es am Ende doch die Autorin selbst, die Munin, dem mythologischen Raben hier ihre Stimme gibt?

„Munin oder Chaos im Kopf“ ist gerade angesichts dieser Erzählstruktur ein spannendes Buch, dass einem beim Lesen Haltung abverlangt. Wie tolerant wäre man denn selbst, wenn eine psychisch kranke Frau tagtäglich Opernarien vom Nachbarbalkon schmetterte? Wie hält man es selbst mit Mitmenschlichkeit und Mut? Wo ist die Grenze der eigenen Liberalität? Wo fängt es an, das individuelle „Das-wird-man doch-noch-sagen-dürfen“-Bedürfnis?

Diese Rezension sollte nicht ohne einen dringenden Lektüretipp enden: C. V. Wedgwood: Der 30jährige Krieg. Verfasst 1938 und sowohl antiquarisch wie auch 2018 neu aufgelegt beim Nikol-Verlag zu haben.

Monika Maron
Munin oder Chaos im Kopf
S. Fischer
2018 · 224 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-10-048840-4

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