Am Ende der Schuldkette
Je trüber der Blick nach außen, desto klarer der nach innen: Gemäß diesem Prinzip funktioniert nicht nur der Mythos des blinden Geschichtenerzählers, sondern auch Monika Marons schmaler Roman „Zwischenspiel“.
Als die 60-jährige Ruth morgens zum Rauchen auf den Balkon tritt, fliegt eine kleine Wolke rückwärts vorbei. Von diesem Moment an nimmt sie die Welt um sich her nur noch verpixelt wahr. In ihrer angenehm unaufgeregten Bodenständigkeit begegnet sie dieser „Verwandlung des Alltäglichen in seine impressionistische Variante“ relativ gelassen, ja sogar mit einem gewissen kunstwissenschaftlichen Interesse. Kein Wunder, dass Ruth, was sie um sich her sieht, abwechselnd an Claude Monet, El Greco oder Francisco de Goya erinnert – schließlich arbeitet sie in einem Museum für Bildende Kunst.
Der Tag, der mit dieser merkwürdigen Sehstörung beginnt, ist auch in anderer Hinsicht außergewöhnlich – Ruth muss zur Beerdigung ihrer langjährigen Freundin Olga, die außerdem vor über dreißig Jahren beinahe ihre Schwiegermutter geworden wäre. Es graut ihr vor der Zeremonie, nicht nur wegen aufkommender Gedanken an die eigene Vergänglichkeit, sondern vor allem, weil sie Bernhard, Olgas Sohn, den sie damals beinahe geheiratet hätte und mit dem sie eine längst erwachsene Tochter hat, um keinen Preis wiedersehen möchte. Hin- und hergerissen setzt sie sich – leichtsinnigerweise, trotz ihrer Sehstörung – ins Auto und macht sich auf den Weg. Doch nicht nur die Augen spielen ihr einen Streich, auch das Navi spinnt. Vielleicht auch Ruths Psyche. Jedenfalls landet sie, anstatt auf dem Friedhof, in einem Park am Rande Berlins.
Den Gespenstern ihrer Vergangenheit entkommt sie trotzdem nicht – im Gegenteil. Schnell wird klar, dass Ruth an einen Ort geraten ist, an dem die Welt der Lebenden und die der Toten nicht mehr strikt voneinander getrennt sind. Nacheinander erstehen die sprichwörtlichen „Leichen im Keller“ vor Ruths getrübtem Blick in Erscheinung (interessanterweise sind es die Toten, deren Konturen sich vollkommen klar aus der flirrenden Umgebung heben). So nimmt ein Tag voller Selbstgespräche – oder Konversationen mit Geistern, je nach Deutungsart – seinen Lauf.
Zunächst – vielleicht, weil sie eben erst nebenan zu Grabe getragen wird und ihre Seele noch frei umher schwebt – tritt Olga auf, an der Ruth zwar nicht direkt schuldig geworden ist, wohl aber an deren Sohn und Enkel. Weil Ruth sich nicht imstande sah, außer für das eigene Kind auch noch für Bernhards behinderten Sohn aus einer früheren Beziehung zu sorgen, ließ sie damals die Hochzeit platzen und floh mit der neugeborenen Tochter. Doch auch Bernhard hat sich an Ruth und der gemeinsamen Tochter schuldig gemacht: Als Ruth mit Fanny und ihrem zweiten Mann Hendrik in den Westen ausreist, spioniert Bernhard alias IM Modigliani seine neunjährige Tochter und über sie den „staatsfeindlichen“ Schriftsteller Hendrik aus. All dies erfährt Ruth erst lange nach dem Zusammenbruch der DDR, als Hendrik Einsicht in seine Stasi-Akten nimmt.
Durch diese komplexe Schuldverkettung gerät „Zwischenspiel“ zu einer mehrschichtigen Reflexion über die nachträgliche Schuldfähigkeit eines Menschen. Das kommt mal leichtfüßig-lebensklug daher („Was ist so ein Ich eigentlich, dachte ich, wenn dem alten Ich das junge so fremd ist“), mal trivial, wie in Olgas mehrfach zitiertem Lieblingssatz: „Schuld bleibt immer, so oder so.“
Der Preis für die philosophisch hochtrabendsten, dabei aber auch enervierendsten Reden geht definitiv an Bruno, einen ehemaligen Freund von Hendrik. Bruno hätte das Zeug zum Schriftsteller gehabt, weigerte sich jedoch unter dem DDR-Regime, auch nur eine einzige Zeile zu schreiben – mit dem Verweis, er habe „nicht einmal an der Literatur schuldig werden wollen“. Dafür schrieb Hendrik eifrig die Gedanken seines genialen Freundes mit, schmückte sie aus und veröffentlichte sie später im Westen. So wurde der eine zum untoten Trinker, der andere zum gefeierten Autor.
Da die Ost-West-Dynamik des geteilten Deutschland einen gehörigen Anteil an dieser Schuldkette hat, verwundert es nicht, dass plötzlich Margot und Erich Honecker aus dem Gebüsch auftauchen. Stur und unbelehrbar wie eh und je, stecken sie allerdings im Jahr 1990 fest und wollen nicht begreifen, dass die Zeiten sich geändert haben. Ein Glücksfall, denn die beiden verwirrten Verirrten sorgen für ein paar humorvolle Momente, die das stramme Durchexerzieren der Schuldfrage mit subtiler Komik durchbrechen.
Gegen Ende wird es, dank des untoten Trinker-Philosophen Bruno, leider auch noch pseudoreligiös. „Das ganze Spektakel war von Anfang an als ein erzieherischer Akt mit Ewigkeitswirkung gedacht“, belehrt Bruno „die Damen“ hinsichtlich der Paradiesvertreibung. Hat man ihm das verkannte Genie vormals noch abgekauft, so entlarvt er sich spätestens jetzt als neunmalkluger Schwätzer, der seit Jahrzehnten die ewiggleichen Phrasen wiederholt.
Ein weiteres Problem des Buches: Es bleiben kaum eindrückliche Bilder hängen. Alles ist impressionistisch verschwommen, irgendwie malerisch und ganz hübsch, aber letztendlich eben auch un(an)greifbar. Das Geschehen im Park bleibt verpixelt; die Vergangenheit wird von Dritten kolportiert und erwacht selten wirklich zum Leben.
Jahre werden im Zeitraffer erzählt, Emotionen mehr beschrieben als gezeigt. „Das meiste hatten wir uns denken können, einige Vermutungen wurden bestätigt, andere nicht“, heißt es abstrakt und vage über den – vermutlich recht bewegenden – Moment der Stasi-Akteneinsicht. „Fanny weinte, war wütend, schämte sich. Für einige Jahre brach sie den Kontakt zu Bernhard ab.“
Dieses emotionslose Hinwegerzählen über Schlüsselmomente verschenkt viel und verwundert, vor allem angesichts der biografischen Parallelen zwischen Autorin und Protagonistin. Genau wie Ruth wuchs Maron an der Seite eines regimetreuen Stiefvaters in Ost-Berlin auf und reiste Ende der achtziger Jahre nach Westdeutschland aus. Trotz allem wirkt „Zwischenspiel“ merkwürdig distanziert.
Weniger auf Kalenderspruch-Niveau heruntergekochte Betrachtungen über Schuld und Sühne, das Böse im Menschen und Gottes Absichten hätten dem Roman gut getan, dafür mehr von Ruths ganz persönlicher Analyse dessen, „was hätte geschehen müssen oder nicht hätte geschehen dürfen, damit es um mich nicht schade gewesen wäre.“
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