Mit nichts am Leib, außer ganzen Rippen
Beide Protagonisten verbindet ein gemeinsames Ziel bei ihrer Reise: die Flucht vor ihrem bisherigen Leben, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Der eine, Lord Byron, schickte seinen Protagonisten Childe Harold zwischen 1812 und 1814 nach Südeuropa, um ihm seinen luxuriösen Lebenswandel abzugewöhnen, der andere, Moyshe Kulbak, der „Pfeifenmann“ aus Litauen, reiht sich 1920 in den Strom der osteuropäischen Emigranten nach Deutschland ein, um rund drei Jahre in Berlin zu leben, nicht aus Jux und Tollerei, sondern um zu studieren. Ein Vorhaben, das an seinen mangelhaften Deutsch-Kenntnissen scheitert, aber eine Gedichtsammlung über Berlin hervorbringen wird, die als poetisches Zeugnis der jiddischen Sprache den Anspruch erhebt, in den Kanon einer Weltsprache aufgenommen zu werden. Bereits die einleitenden Verszeilen verkünden diesen emanzipatorischen Anspruch:
Eine Bahn, ein Fenster. Ein Gesicht erhellt.
Mit einer Pfeife zwischen steifen Lippen
Macht sich ein junger Mann auf in die Welt
Mit nichts am Leib, außer ganzen Rippen.
Doch der Jude, der aus dem Blickwinkel seiner Berliner Wirtin zum jungen Russen mutiert, will auch ein Europäer sein, obwohl es dem Childe Harold schwer fällt:
Und im heißen Berliner Abendpanorama
Ist er schon europäisch, gar sehr;
Obwohl ihm noch etwas fehlt zum ganzen Europäer:
Ein Hund, ein Tripper und ein Pyjama.
Wie schwer es dem Protagonisten in diesem Berlin der Nachkriegszeit fällt, sich finanziell über Wasser zu halten, verdeutlichen seine Bemühungen, Freunde zu finden. Persönliche Kontakte scheitern an sprachlichen Barrieren und seinen fehlenden Möglichkeiten, sich „adrett“ zu kleiden und in Restaurants zu gehen. Umso schärfer ist sein kritischer Blick auf die Reichen und das Mitleid mit den vielen Armen und Obdachlosen. Diese vergleichenden Betrachtungen, in rhythmisierten und gereimten Versstrukturen eingepackt, zeichnen die zweiundsechzig Gedichte aus. Und wenn auch die Nachdichtungen, die sich oft an dem schnoddrig-ironischen Stil des Heinrich Heine Vorbild „Childe Harold“ aus dem Jahr 1844 orientieren, in manchen Passagen sehr bemüht klingen, diese urbane Lyrik ist voller Dynamik, lebt von dem lebendigen Rhythmus der Großstadt Berlin.
Die Childe Harolds essen wenig,
besonders der Disner Childe Harold –
er ist schwarzhaarig, schlank und sehnig,
ist ordentlich, doch schlecht rasiert, ungewollt.
Und wie schlägt sich das Alter-Ego des Childe Harold in dem pulsierenden, noch von dem Ersten Weltkrieg gezeichneten Berlin durch den Alltag? Erbärmlich, Smulik Pfeifenmann hat sich dem Elend hingegeben und „lauscht der verrückten Zeit: Berlin bricht aus in Geschrei und Gezeter;“ (vgl. S. 25) Die Museen und Theater schreien, die Namen damals berühmter Schauspieler, wie Alexander Granda und Alexander Moissi, mischen sich in diesen Lärm. Protagonisten aus Werken der zwischen 1850 und 1915 aufblühenden jiddischen Literatur, wie Sforim und Perez werden genannt, sogar der russische Naturwissenschaftler und Dichter Lomonossow taucht als Nachweis für den europäischen kulturellen Austausch auf. Es zeichnet die dynamischen rhythmisierten Visionen von Moyshe Kulbak aus, dass sie auf diese Weise eine dichte Verbindung zwischen ost- und westeuropäischen Kulturwelten schaffen. Dass solche Assoziationen gleichsam überraschende Begegnungen auch im Berliner Alltag von Pfeifenmann Kulbak hervorrufen, ist die stilisierte Beschreibung des Goethetags in der Wohnung der Wirtin Weichert, die stundenlang in den Römischen Elegien liest, während der kranke Pfeifenmann eben noch philosophische Schriften von Stirner gelesen hat. Einfach köstlich, dass er Fräulein Weichert zuhört, die, wie Geheimrat Goethe in dessen faustischen Jahren, singt.
Doch es gibt nicht nur die fetzigen Eindrücke aus dem Wedding, auch das zweite Deutschland ist mit düsteren Impressionen präsent, mehr noch mit blutigen Bildern von Streiks, Hungerdemonstrationen, Boxkämpfen und Straßenschlachten.
Es gibt einen Hass – geschliffener Kristall,
der funkelt wie ein Rubin, mit Blut und Schaden …
in der Nacht. Der Mond aus kaltem Metall
umspinnt mit einem silbernen Faden
die Kirchen, die Gefängnisse, die Schlösser.
Was hier mit silbernem Faden umsponnen ist, symbolisiert die unheilige Allianz von korruptem Rechts- und Strafsystem wie auch den scheinbaren Untergang des Adels. Konkret benannt wird die revolutionäre Bereitschaft der Arbeiter, die Schlacht in der Nettelbeck-Straße, die Opfer der blutigen Straßenkämpfe, die eine auf einer Barrikade, der andere in Moabit, die singende Menschenmenge, die roten Fahnen, die nicht bestraften Nutznießer des Krieges: Stinnes, Krupp und Thyssen. Hier spricht ein jiddischer Dichter auf der Höhe seiner Zeit, der seinen Protagonisten Childe Harold in einer Weddinger Schenke seine historischen Erkenntnisse ausrufen lässt:
Genossen /
Der Mensch ist ewiglich gut,
der Mensch hat Blut vergossen
und wird weiter vergießen Blut.
So trinkt nur, lasst uns trinken
Und in aller Stille verkünden:
Der Mensch beginnt zu stinken,
schon lang vor seinem Entschwinden.
Die Übersetzerin und Kommentatorin der Gedichte von Moyshe Kulbak, Sophie Lichtenstein, die bereits den Prosaband des jiddischen Autors „Montag“ ins Deutsche übertragen hat, verweist in ihrem Nachwort zur Übersetzung von Moyshe Kulbaks Disner tshayld harold daraufhin, dass dessen Gedichtzyklus 1933 in vollständiger Gestalt auf Jiddisch publiziert wurde. Kulbak hatte ihn nach seiner Rückkehr erst 1928 geschrieben, zu einem Zeitpunkt, als die Weimarer Republik sich bereits in einem fragilen Zustand befand. Was das Reimschema der in sechs Abschnitten aufgeteilten Gedichte betrifft, so wechseln sich Paar- und Kreuzreime ab. Zu Recht verweist Sofie Lichtenstein daraufhin, dass verschiedene sprachliche Elemente die jiddische Grundstruktur der Gedichte beeinflussen, ein Merkmal, das da und dort die Übersetzerin zwingt, auch weniger passende Endreime zu verwenden. Ein Verfahren, das manchmal störend wirkt, oft aber auch die Dynamik der äußeren Zeitstrukturen betont. Eine kleine Liste von Anmerkungen und sogar ein Anhang, in dem die redaktionelle Auseinandersetzung um den letzthin werbewirksamen Titel, zeugen von den redlichen Bemühungen um ein bedeutendes Dokument jiddischer Höhenkamm-Literatur, die nach der willkürlichen Liquidierung bedeutender Kulturträger des Jiddischen in der Stalinära (1928-1953) zu verschwinden drohte. Umso wichtiger ist das Bemühen des fotoTAPETA-Verlags, vom Vergessen bedrohte literarische Dokumente wieder zu veröffentlichen.
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