In automatensprachlicher Klammer
Unter dem Menüpunkt „über tau“ steht auf der Homepage der seit Anfang 2018 halbjährlich (also zweimal) erscheinenden Hamburger Literaturzeitschrift unter anderem dies zu lesen:
tau widmet sich der zusammenführung von literatur und leser*innen über die hanseatisch-nordische perspektive hamburgs. uns vereint das gemeinsame interesse an neuentdeckungen sowie neuem von bereits bekannten autor*innen, dazu das anliegen, zeuge und förderin eines spannenden umschlagplatzes frischer texte – des literarischen pendants zum hamburger hafen – zu sein.
Thema von tau Nummer 2 ist das Schlagwort „Wertekind“. Das ist eine kluge Setzung: Literatur reagiere hier auf die Feuilleton- und Talkshow-Behauptung von „Wertedebatten“, „Europäischen Werten“, auf die stets mitgemeinte, rhetorisch vernutzte Mehrdeutigkeit des Wertbegriffs (postmarx‘sche Wertkritik; wirtschaftlich-greifbarer Wert vs. metaphysischer Besitz, ethisches Substrat), auch auf den Hauch von Alte-Männer-Dunst über den so diskutierenden Hinterzimmern der Republik; sie reagiere aber vor allem – „-kind“ – mit verjüngender Geste und planvoll unangreifbar, selbst-zurücknehmend, ambivalent. (Das Editorial schlägt darüber hinaus noch die Brücke vom „wertekind“ zum frühlingserwachenden „Wedekind“, aber der bleibt uns dankenswerter Weise auf den folgenden ca. 220 Seiten weitgehend erspart). Die weit gefächerte Auswahl hält, was die oben zitierte Homepage verspricht (wir verkneifen uns an dieser Stelle die Metapher vom grobmaschigen, weit in die hanseatische Nordsee gehängten Fangnetz; wir müssten sonst den einzelnen Autor*innen emblematische Typen von seafood beiordnen).
Anfang und Ende von tau 2 gehören mit Texten von Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt dem Algorithmus; der Erkenntnis (von, wenn ich mich recht erinnere, Reinhard Priessnitz), wenn eine (sprachliche) Ordnung gestört werde, sei es leicht, sie überhaupt erst einmal wahrzunehmen. Beide Beiträge sind objektiv relevant und operieren mit klar greifbaren Mitteln auf der Höhe der sprachlichen, technischen, sozialen Wirklichkeit – bei Bajohr lernt als das redaktionell angeforderte Kind eben die Maschine, und generiert nebenbei neue Jungen- und Mädchennamen; bei Weichbrodt wird die „Werte“-debatte fortgeführt als computergenerierte Liste von Sachen, die „zu Deutschland gehören“ oder eben „nicht …“ (wie in wirklichen Wortmeldungen gern mal „der Islam“). Meiner bescheidenen Meinung nach hätten beide Texte in dieser Zusammenstellung sehr davon profitiert, wenn Autoren wie Redaktion sich die Erläuterungen zur Machart gespart hätten: Es ist Leser*innen zeitgenössischer Literatur die selbständige Erkenntnis durchaus zuzutrauen, dass die Regelhaftigkeit von Sprache sie prinzipiell den Erkenntnis- und Bespaßungsmitteln der Algorithmen zugänglich macht, und hier ist es ja gerade der Sinn der Sache, sich die je angewandte Regel selbst zu erschließen …
Und was finden wir zwischen diesen beiden algorithmischen Buchstützen? – Von Dominik Dombrowski, Sigrid Behrens und Dagmara Kraus lange Gedichte, denen ich gerne folge. Ansonsten vor allem Prosa, am auffälligsten ein Text von Raphaela Bardutzky, der sich unter der Hand verwandelt: erst ist er eine verwegene Polemik in Gestalt zweier unterhaltsam forscher Bettelbriefe und schlägt Humor aus der Schere zwischen distanzierter Form und forsch-persönlichem Inhalt, doch das erweist sich als Text-im-Text, und was wir tatsächlich lesen, ist eine „realistische“ Prosa, die freilich vor allem die komische Spannung der Bettelbriefe bloß in eine Wirklichkeit (was für eine?) transponiert. Von Anik Lazar gibt es „Schrauberinnenstories“, deren zentraler Impuls – An Autos rumschrauben! Zum Spaß! Auf Bauwagenplätzen! Und die mechanische Einzelheit auch noch als sozial-/erotische „Natur“metapher! – mir, vielleicht zu unrecht, weniger neu oder spannend erscheint, als es der Gestus ihrer Prosa nahezulegen scheint („wertekindlich“ ist der Beitrag hingegen voll und ganz). Ursel Allensteins Übersetzung aus dem Dänischen von Martin Glaz Serup, „Leseorte“ passt, als passable Feuilletonprosa über Texte, mittelbar über Kanonbildung im einundzwanzigsten Jahrhundert, ebenfalls inhaltlich voll ins Konzept von tau #2.
Überhaupt ist, scheint‘s, ein bestimmter Prosa-Geschmack der Herausgeber*innen wahrzunehmen, der eine wiedererkennbare Art von inhaltlicher Volte bei ansonsten zur Schau getragener formaler Schmucklosigkeit als Ausweis einer Jetztigkeit (Werte-/-kindlichkeit?) der Texte schätzt. Dagegen ist nichts einzuwenden: Literaturzeitschriften sind der korrekte Ort, um ästhetische Konzepte zu explizieren, auszustellen und zu verhandeln.
In der Art, wie nun gerade diese Sorte Prosa mit gerade dieser Sorte Langgedicht zusammenpasst, und beides sich zu der automatensprachlichen Klammer verhält, dürfen wir wohl so etwas wie den Imperativ der Herausgeber erkennen: Gerade so, in dieser Weise verhalte sich Literatur strategisch kindlich zu Wertedebatten und ähnlichen Zumutungen. Kann sein, man will ihnen hierin dann nicht folgen – aber als Diskussionsgrundlage liegt tau #2 erstmal vor.
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