Luft oder Lärm, Schreiben, nicht Schreiben? – Der Text ruft.
„Ich werde aus den notierten Worten Segel nähen, sie sammeln und sie dann wieder vom Wind in die Welt wehen lassen. Dann nehmen sie uns vielleicht mit.“
In Bittermeer von Nils Röller lässt sich mit verfolgen, wie der Prozess des Übersetzens zur Entstehung eines eigenständigen literarischen Textes führt. Das Übersetzen ist dabei nicht allein Auslöser, sondern auch Gegenstand desselben: „Die Übersetzung ist zu einem Antrieb oder Segel dieses Textes geworden.“ Nils Röller übersetzt das Meer der Liebe, ein italienisches Gedicht eines anonym gebliebenen Dichters oder auch einer Dichterin aus dem 13. Jahrhundert und übersetzt zugleich das Übersetzen selbst in sein eigenes Schreiben, sowie sich selbst und sein Leben in den Text, den er schreibt. Er zeigt, dass Übersetzen keine einmalige Grenzüberschreitung darstellt, sondern ein langer Weg ist, eine Wendeltreppe, die zum Raumzeitquirl werden kann. Übersetzen wird als Wanderung nachvollziehbar, die einen selbst verändert, einem einen anderen Blickwinkel auf die Welt verschafft. Fasst man das Übersetzen als Wanderung auf, so kann es durchaus passieren, dass man dabei auch einmal über Apostrophen oder Ähnliches stolpert. Doch gerade dieses Stolpern scheint Nils Röller besondere Freude zu bereiten.
Übersetzen stellt einen Übergang dar, der in alle Richtungen offen ist. Das Meer aus dem Meer der Liebe wird, da Zürich das Meer fehlt, übersetzt in das Gleismeer des Züricher Hauptbahnhofs, während die Metapher der Schiffe ihre Analogie in den ständig aus- und einfahrenden Zügen findet. Auch Friedrich der Zweite, zu dessen Zeit das Gedicht geschrieben wurde, wird übersetzt. Da die Schweiz auch keinen Kaiser vorzuweisen hat, führt Nils Röller stattdessen Wilhelm den Zweiten ein, weil dieser ebenfalls ein II. ist, er Friedrich den Zweiten bewunderte und Nils Röller selbst in Wilhelmshaven geboren wurde, es also auch eine Verbindung zur Übersetzer-Autor-Figur gibt.
Nils Röller lässt uns teilhaben am Prozess des Übersetzens, einem Übersetzen, das ihn über viele Jahre hinweg begleitet. Dabei begegnet er seinen Lesern auf Augenhöhe, da er sie nicht mit der fertigen, unnahbaren Übersetzung erschlägt, sondern sie mitnimmt auf seine Reise des Lesens, Rätselns und Suchens und sie so langsam und Schritt für Schritt an das Gedicht, das er übersetzt, heranführt. Denn auch er selbst kommt im Lesen und Übersetzen nur sehr langsam und tastend voran:
„Ich habe kaum etwas davon verstanden, bin Vers für Vers vorgegangen, Monate oder Jahre bin ich an den ersten Versen hängengeblieben, weil ich selten ein Wörterbuch in der Nähe hatte.“
Sehr sympathisch ist, dass Nils Röller keineswegs mit seinem Wissen über die Zeit von Friedrich dem Zweiten oder mit seiner großen Sprachkompetenz als Übersetzer angibt. Stattdessen lässt er uns ihm gewissermaßen über die Schulter blicken, während er in Büchern zu Friedrich dem Zweiten nachschlägt, oder jedes Wort, verschiedene Wortstellungen, Apostrophen, etc. hinterfragt und Variante um Variante ausprobiert, abtastet, um zu einer für ihn einigermaßen zufriedenstellenden Lösung zu finden.
Die Annäherung an das zu übersetzende Gedicht erfolgt überaus vorsichtig, beinahe zögerlich. Zunächst lernen wir nur einzelne Verse auf Italienisch und Deutsch in verschiedenen Übersetzungsvarianten kennen. Aber mit der Zeit fließt der Satzbau des Gedichts, des Italienischen, auch in das Schreiben über eben dieses ein und führt zu Sätzen wie: „Immer wieder von vorn das Buch beginnen müssen wir, […]“ Das ist ebenso Teil der Annäherung an das Gedicht, denn es geht auch um die Frage, ob sich der Rhythmus des Italienischen ins Deutsche übertragen lässt und wie.
Mich als Übersetzerin begeistern an Bittermeer vor allem auch die ebenso ungewöhnlichen wie überzeugenden Bilder, mit denen Nils Röller den Vorgang des Übersetzens in Worte fasst. Schiffe, bzw. Boote, fungieren als Hauptmetapher um über das Übersetzen zu sprechen:
„Beim Übersetzen wird ein Textgefährt, das in einer Sprache wie in einem Gewässer schwimmt, in ein anderes überführt. Dabei wird der Text den Verhältnissen entsprechend umgerüstet. Wer übersetzt, grenzt Gebiete ab, in denen Textschiffe schwimmen.“
Immer wieder bezeichnet er dabei Silben als Boote:
„Zwei, drei, vier Einsilbler bewegen sich schnell fort. Andere liegen ruhig im Wasser, bieten Stabilität im Strom. Eine Silbe wie Sein liegt allerdings so tief im Wasser, dass die Umrisse der anderen in der Umgebung verschwinden, in der Breite versacken und die Zwischenräume unwahrnehmbar werden.“
Ein sehr schöner Vergleich ist auch der von Silben mit Sprungfedern, da es ihm dadurch gelingt auszudrücken, was er mit seiner Übersetzung erreichen möchte, nämlich dass die Silben in ihr ebenso oder gleichsam schwingen, wie im Gedicht:
„Die Silben, die ich setzte, sind starr, hart, das Gegenteil von Gummibändern. Dabei sind Sprungfedern auch aus hartem Material, gegossen oder geschmiedet oder gezogen. Es ist also möglich, festes hartes Material so anzuordnen, dass es schwingt. Das müsste auch mit einzelnen Silben möglich sein, […]“
Aber man muss gar nicht selbst übersetzen, um Vergnügen an diesem Buch zu finden. Denn Bittermeer zeichnet sich auch durch eine sehr spannende und als verschachtelt, bzw. mehrgleisig zu bezeichnende Erzählweise aus. Zeitebenen und Metaphernfelder werden zugleich kontrastiert und miteinander verschnitten. Im Mittelpunkt steht die Übersetzerfigur, die mit sich und dem Gedicht ringt. Es gibt zwei Hauptzeitebenen, zum einen die Zeitebene des Gedichts, also die Zeit Friedrich des Zweiten, der sich der Übersetzer anzunähern versucht um zu verstehen, aus welcher Position heraus der anonym gebliebene Dichter des Mare amoroso schrieb und welches Wissen und welche Metaphern ihm zu dieser Zeit noch zur Verfügung gestanden wären. Und dann gibt es die Zeitebene der Übersetzerfigur, die in einer Wohnung am Züricher Hauptbahnhof sitzt, der schon unter normalen Umständen laut, aber nun eine Großbaustelle ist und bei laufendem Betrieb umgebaut wird, was nur durch Nachtarbeit machbar ist. Der unerträgliche und ununterbrochene Lärm, dem man allein durch Umzug oder Flucht entkommen könnte, wird zu einer eigenen Figur im Text, die sowohl das Übersetzen, als auch das Schreiben beeinflusst. Und natürlich ist es naheliegend, dass ein Übersetzer wie Nils Röller auch den ihn umgebenden Lärm übersetzen möchte:
„Ich will schreiben, um schöner, besser zu leben, ein Leben in dem Lärm finden, ihm nicht bloss trotzen, eigenes Trompeten entgegen setzen, sondern den Lärm erfassen und dann übersetzen. Jeder Zug ist ein Vers, jedes Wort ein Wagon.“
Übersetzen = Leben = Übersetzen, könnte man Bittermeer zusammenfassen. Und so ist es auch durchaus logisch, bei einem Übersetzer, der sein eigenes Leben und sich selbst in seinem Übersetzen als Übersetzerfigur übersetzt, dass „der Spross eines Zitronenkerns“ auf dem Fensterbrett an späterer Stelle unvermutet zu einem Orangenbäumchen wird. Nein, das ist kein Versehen, bei einem Autor wie Nils Röller kann man sich sicher sein, dass es das nicht ist. Es handelt sich dabei ebenfalls um eine Übersetzung. Hinweise an anderer Stelle, um das zu entdecken, fehlen auch nicht, denn Nils Röller möchte seine Leser ja nicht ausgrenzen, sondern mitnehmen:
„Wikipedia rät, das Lied der Mignon aus Goethes Wilhelm Meister anzusehen.“ Im ersten Vers stehen da die Zitronenbäume „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“, im zweiten die Orangenbäume „Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn“.
Die ganze Übersetzung des Mare amoroso ist dann erst gegen Ende des Buches abgedruckt. Zu diesem Zeitpunkt ist das Gedicht uns schon wohl vertraut. Wir kennen einzelne Zeilen daraus, den Rhythmus der Sprache und die Bilder und Erzählungen, derer es sich bedient. Auf den vorhergehenden 124 Seiten haben wir uns diesem Gedicht anfangs beinahe unmerklich immer weiter angenähert und so können wir es nun auf Anhieb für uns selbst lesen und verstehen. Das Gedicht ist uns nicht mehr fremd, wir kennen seine Sprechweise, seine Art, Zäsuren zu setzen und selbst die vielen Namen, die es nennt. Diese sachte Hinführung an ein Gedicht aus so großer zeitlicher Entfernung und die dabei beinahe mühelos erscheinende Überbrückung so vieler Jahrhunderte ist eine ungemein große Leistung von Nils Röller.
„dann würde ich mit euch in diese Barke steigen / und nie aufhören, übers Meer zu fahren“ Auch wenn die vollständige Übersetzung des 334 Verse umfassenden Gedichts erst gegen Ende des Buches zu finden ist, ist das Buch damit noch lange nicht zu Ende, denn Übersetzen ist ein Prozess ohne Ende. Der Übersetzung folgen dann noch weitere Überlegungen über eben diese und spannendes Bonusmaterial wie eine Liste überzähliger Worte. Ganz am Ende löst sich das Buch dann gar in Gedichte auf, die alles nochmals komprimierend zusammen fassen und weiter denken:
Können Silben
Schiffe werden?
Erstveröffentlicht in: wespennest 174, Idiotie, erschienen am 14.05.2018
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