39 : 5
Schreibheft Nr.89 ist da – spannend und vielversprechend wie immer – meine Begeisterung ist schier grenzenlos, ich lese voll Neugier in die ersten Beiträge hinein, verschaffe mir einen ersten Überblick…
…und kann nicht glauben, was ich da sehe. Denn bei näherer Betrachtung erweist sich Schreibheft Nr.89 als schockierend exklusiv. Beinahe völlig ausgeschlossen wird darin nicht mehr und nicht weniger, als die Hälfte der Menschheit. 39 : 5. Das ist kein Ergebnis eines Handballmatches, das ist die Verteilung von Männern zu Frauen in Schreibheft Nr.89.
Damit erlitt meine Begeisterung für Schreibheft Nr.89 schon sehr bald einen Frontalzusammenstoß. Einen Frontalzusammenstoß mit einer unsichtbaren Glaswand, bei 180 Stundenkilometern auf der Autobahn.
Und nein, es handelt sich nicht um einen expliziten Männer-Schwerpunkt, der zu diesem Verhältnis 39 : 5 geführt hat, es ist allem Anschein nach „halt so passiert“, unbeabsichtigt und unreflektiert. Diese Tatsache ist es, die mich wirklich wütend macht, als Rezensentin, als Autorin, als Frau und als Mensch. So etwas darf einer so großartigen, so wunderbar fein durchkomponierten und renommierten Zeitschrift, wie dem Schreibheft, das dieses Jahr immerhin sein 40jähriges Jubiläum gefeiert hat, einfach nicht passieren. Trotzdem ist es passiert, wie Ausgabe Nr.89 beweist. Es bleibt daher nur mehr zu hoffen, dass es sich hierbei um einen einmaligen Ausrutscher handelt.
Die fünf Frauen, die im Laufe der 184 Seiten von Schreibheft Nr. 89 zu Wort kommen dürfen, tun das alle innerhalb eines einzigen Kapitels (Dossiers) – dem von Norbert Lange zusammen gestellten Abschnitt zur Dichtung der Trobadore in neuen Übersetzungen.
Um mit meiner Rezension zumindest einen minimalen Ausgleich zu diesem doch eklatanten Missverhältnis zu schaffen, werde ich mich im Folgenden auf dieses Dossier beschränken. Das sei aber bitte nicht als Kritik an den anderen Beiträgen und Autorenkollegen zu verstehen, sondern ausschließlich als Kritik am Gesamtkonzept.
Dem Troubadour-Dossier ist ein Motto von Roberto Bolaño aus „Die wilden Detektive“ vorangestellt, da sich das Dossier davor Roberto Bolaño und dem Infrarealismus widmet. Es ist eines der Merkmale des Schreibhefts, dass die einzelnen Dossiers sich immer wieder aufeinander beziehen. Im Motto wird in einem Satz zugespitzt und fassbar, was ich am restlichen Schreibheft Nr.89 so vehement kritisiere. Der Satz aus dem Roman lautet wie folgt:
Und dann redeten wir noch über die unsterblichen provencalischen Dichter, Sie wissen schon, Arnaut Daniel, Bertrán de Born, Guiraut de Bornelh, Jaufré Rudel, Guillem de Berguedà, Marcabrú, Bernart de Ventadorn, Raimbaut de Vaqueras, der Castellano de Coucy, der gewaltige Chrétien de Troyes, und wir redeten über die Italiener, [...]
Ja wer fehlt denn da? Wer wird in diese Liste der Unsterblichkeit nicht aufgenommen? Wer wird stillschweigend unter den Tisch gekehrt? Totgeschwiegen? Ja wer denn???
Norbert Lange folgt nicht der Aufzählung von Roberto Bolaño, sondern trifft seine eigene Auswahl an Troubadours und diese enthält mit Beatrix de Dia und Tibors auch zwei weibliche Trobadoras, denn auch diese gab es, natürlich gab es sie, denn Dichtung ist etwas zutiefst Menschliches und nichts explizit Männliches, das sollte eigentlich selbstverständlich sein.
„End fact. Try fiction.“ Dieses Zitat von Ezra Pound, welches die Überschrift des Troubadour-Dossiers ist, lese ich als durchaus aufmunterndes Schulterklopfen Norbert Langes: Genug Fakten und Zahlen, zurück zur Literatur!
End fact. Try fiction.
Die Dichtung der Trobadore,
gedolmetscht
Zusammenge
stellt von Norbert Languedoc
und Josef Pastorelle
Dieses Dossier erreicht durch die Vielzahl an Troubadours und Dolmetschenden eine ungemeine Vielfältigkeit, sowohl was das breite Themenspektrum anbelangt, als auch was die unterschiedlichen Singstile, möchte man in diesem Fall fast sagen, der dolmetschenden Dichter und Dichterinnen anbelangt. Geerdet wird alles mit drei Aufsätzen zu Hintergründen, Begriffserklärungen und einzelnen Besonderheiten der Troubadourdichtung. Ausgangs- und Endpunkt stellt je ein Gedicht dar, welches sich jeweils inhaltlich auf das Troubadour-Thema bezieht. Diese zwei Gedichte stammen von Ezra Pound und Paul Blackburn, welche beide auch als Troubadour-Übersetzer tätig waren.
Ezra Pound
Besuch bei Levy in Freiburg, Aus den Cantos
In diesem Auszug aus den Cantos, in der Übersetzung von Rainer G. Schmidt, wird von einer Reise nach Freiburg erzählt, „zum alten Levy“. Damit ist Emil Levy gemeint, ein Experte der Alt-Okzitanischen Sprache und der Verfasser eines achtbändigen Supplement-Wörterbuchs. Ezra Pound übersetzte selbst Arnaut Daniel, das ist an dieser Stelle wichtig zu wissen. Anlass der nacherzählten Reise ist die Suche nach einem mysteriösen Wort, auf das er in einem Lied von Arnaut Daniel gestoßen war:
Und er: „Was wollen Sie denn wisse?“
Und ich: „Keine Ahnung, mein Herr, oder:
Doch Doktor, was ist mit noigandres gemeint?“
Und er: „Noigandres! NOIgandres!
An späterer Stelle taucht dieses „noigandres“ nochmals auf, aber diesmal etwas anders geschrieben, nämlich „d’enoi gandres“. Das wäre nicht das erste und sicher nicht das letzte Mal, dass aus schlichtem Verlesen Literatur entsteht:
Der Duft dieses Orts – d’enoi gandres.
Luftbewegung unter den Büschen,
Die Zedern dort in der Sonne,
Frisch gemähtes Heu am Hang,
Und das Wasser dort im Graben
Zwischen den zwei tieferen Wiesen; Laut,
Der Laut, wie schon gesagt, einer Nachtigall,
Zu fern, um gehört zu werden. [...]
Obwohl ich weder Pound-, noch Expertin des Alt-Okzitanischen bin, kannte ich „noigandres“ schon von irgendwoher, konnte das Wort aber nicht sofort zuordnen. Auf die Sprünge half mir zwei Seiten später der Aufsatz von Norbert Lange, da er in einer in Klammern gesetzten Ergänzung erwähnt, wie weitreichend die Folgen dieses einmaligen Verlesens waren: „(Diesen Irrtum sollten übrigens die brasilianischen Dichter der Konkreten Poesie um Haroldo de Campos aufgreifen, indem sie ihre Bewegung Noigandres nannten.)“ Konkrete Poesie, Haroldo de Campos, Noigandres – richtig, darüber wird auch im Briefwechsel zwischen Ernst Jandl und Ian Hamilton Finlay gesprochen, daher kannte ich es also.
Norbert Languedoc / Josef Pastorelle
End fact. Try fiction. Die Dichtung der Trobadore, gedolmetscht
Norbert Languedoc scheint eine leicht zu entziffernde Rückübersetzung ins Alt-Okzitanische des Namens „Norbert Lange“ zu sein. Was es aber mit Josef Pastorelle auf sich hat, darüber kann ich nur rätseln. Vielleicht ein Alter Ego von Norbert Lange? Oder ein Pseudonym eines anonym bleiben wollenden Mitherausgebers? Im Autorenverzeichnis findet sich kein Eintrag zu „Josef Pastorelle“, man findet hier auch niemanden mit dem Vornamen Josef, nur einen peruanischen José (José Rosas Ribeyro). Die Form der Pastorelle wird im Autorenverzeichnis aber schon ganz kurz erwähnt, im Eintrag zu Marcabru, der „die erste Pasto(u)relle“ schrieb. Natürlich wäre es relativ einfach, Norbert Lange zu fragen, was es jetzt denn genau mit diesem Josef Pastorelle auf sich hat, aber andererseits ist es auch schön, wenn nicht alle Rätsel der Literatur sofort aufgelöst werden.
Bevor es richtig los geht mit den ersten Übersetzungen wird in diesem Aufsatz, der zugleich auch ein Editorial ist, zuerst etwas Grundlagenwissen zur generellen Orientierung vermittelt: „Die Trobadore waren im heutigen Südfrankreich beheimatet, ihre Dichtung verfaßten sie in Alt-Okzitanisch, einer Weiterentwicklung des Vulgärlateins in Gallien.“
Und es wird viel über Pound erzählt um nachträglich zu erklären, warum das Dossier ausgerechnet mit ihm beginnt:
Pounds Trobador-Studien waren so mühsam wie spannend und begannen in der Zeit um den Ersten Weltkrieg. Wanderte Pound noch 1912, mit einem Baedeker-Reiseführer im Gepäck, durch das reizvolle Stammland der alten Dichter, betrat er 1919 eine in Depression versunkene Gegend. Die einzige Attraktion in der Provence war ein anderer Trobador-Tourist, „a rucksacked Eliot“.
Das Editorial endet mit dem Hinweis auf die Anthologie „Unmögliche Liebe“ zu den deutschen Minnesängern, herausgegeben von Tristan Marquardt und Jan Wagner. Ich möchte dem Beispiel Norbert Langes folgen und an dieser Stelle ebenfalls eine Leseempfehlung aussprechen: „Bittermeer. Mare amoroso“ von Nils Röller. Darin wird ein italienisches Gedicht aus dem 13. Jahrhundert übersetzt und gleichzeitig wird versucht, den Übersetzungsprozess selbst in Worte zu fassen und damit nachvollziehbar zu machen, was zu einem ungemein spannenden Buch führt.
Arnaut Daniel / Rainer G. Schmidt
Er vei vermeills, vertz, blaus, blancs, gruocs ... / Ich schau‘ Scharlach, Grün, Blau, Blank, Gelb ...
und Vogelsang ertönt und schallt
mit süßem Klang am Morgen und am Abend:
Eröffnet wird der Übersetzungsreigen mit einem sehr frohgemuten Lied in der Übersetzung von Rainer G. Schmidt, das dann in den Frühling und „zu der einen, der ich angehöre“ losgeschickt wird.
Arnaut Daniel / Ezra Pound, L’aura amara / The bitter air
Arnaut Daniel / Jacques Roubaud, L’aura amara / L’air amer
Arnaut Daniel / Frank-Rutger Hausmann, L’aur’amara / die herbe Luft
Von „L’aura amara“ gibt es gleich drei verschiedene Übersetzungen von drei Übersetzern in drei Sprachen zu lesen. Das ladet natürlich richtiggehend ein, diese miteinander zu vergleichen. Die Stelle, die sich am schönsten vergleichen lässt, ist die folgende, in der das Ausmaß der Ergebenheit gegenüber der besungenen Frau in Worte gefasst wird. Bei Pound ist das „from toe to earring.“ (von Zehe zu Ohrring). Bei Jaques Roubaud „des pieds aux cheveux“ (von den Füßen bis zu den Haaren). Und Frank-Ruther Hausmann weicht etwas mehr ab, denn er dient ihr „mit Herz und Hand“.
Arnaut Daniel / Mara Genschel
Chansson do-ill mot son plan e prim / Lieder aus Wörtern, die süß sind und leicht
Hier wird das Motiv der Fernliebe wortreich besungen und zugleich wird das Dichten mit dem Weben verglichen:
Ich hör, wie dem Webstuhl das Lied entweicht,
und wirklich, mein Können ist unerreicht:
Ich web in Zeilen,
kunstvoll, gewandt,
das Liebesband,
Leicht zu übersehen, weil sie so unterschiedlich sind, ist die Tatsache, dass Mara Genschel und Alain Jadot (folgt als nächstes) dasselbe Lied von Arnaut Daniel beide ins Deutsche übersetzt, bzw. hypersetzt haben. Im Vergleich wirkt die Fassung von Mara Genschel blumiger, im Sinne von wortreicher, und die von Alain Jadot wesentlich komprimierter und direkter. Damit wäre wieder einmal unter Beweis gestellt, dass ein Gedicht gar nicht oft genug übersetzt werden kann, da es durch jede Übersetzung neue Möglichkeiten hinzugewinnt, was in meinen Augen überhaupt das Schönste am Übersetzungsprozess selbst ist. Also nun weiter zur zweiten Fassung von „Chanson do-ill mot son plan e prim“:
Arnaut, das Video
OmU: Okzitanisch mit Unterstellung von Alain Jadot
Was kommt dabei heraus, wenn man ausgerechnet einem Hypersetzer ein Lied von Arnaut Daniel in die Hände gibt? Richtig, nichts Gutes, sondern etwas sehr Gutes und auch sehr Ungewöhnliches – eine Hypersetzung eben, im besten Sinne des Wortes. Dieser Beitrag ist dreispaltig. Zunächst wurde jede Strophe in ein handgezeichnetes Bild hypersetzt. Daneben ist das Alt-Okzitanische Lied von Arnaut Daniel als O-Ton zu lesen / hören. Und die dritte Spalte enthält dann die ins Deutsche hypersetzten Untertitel / Unterstellungen von Alain Jadot:
Keine Panik, Gnädige / wir
sind weder Lustmolch / noch
Strolch / wie manche aus der
Branche / Sollten wir uns
nicht vermengen / werden wir
uns nicht erhängen.
Dieser Beitrag nimmt das Lied von Arnaut Daniel als Lied ernst. Text, Worte und Sprachspiele sind das eine, Klang und Musikalität das andere: „Aber wir sind ebenso Musiker / wie Textualtriebtäter“ Der Freude an beidem sowie der eigenen Phantasie wird freien Lauf gelassen, was dann schlussendlich zu allergrößtem Lesevergnügen führt.
Arnaut Daniel / Norbert Lange
Por solatz revelhar ... / Verzeiht, wenn ich euch in meinem Lied ...
Besonders ist diese Übersetzung alleine schon deswegen, weil sie auch übersetzt, was nicht mehr zu entziffern, nicht mehr erhalten ist, wie das Editorial schon vorab verraten hat: „Und nur Anfang und Ende der Niederschrift haben sich erhalten. Norbert Lange hat das Einzelstück deshalb ergänzt und eingedeutscht, gedolmetscht mit fachkundiger Unterstützung“ Dieses Lied wird Arnaut Daniel zugeschrieben, könnte aber auch von Fra Rogier Uca stammen. Und es rankt sich eine Legende um einen eigenartigen Sängerstreit am Hof von Richard Löwenherz um dieses Lied. Wie auch immer und von wem auch immer, singen wir es doch einfach weiter:
Schon singen’s die Spatzen,
so sang ich’s doch eben.
Friedrich Diez
Troubadour, Jongleur, Begriffserklärungen, Teil I
Friedrich Diez erklärt den Unterschied zwischen den Begriffen „Jongleur“ und „Troubadour“. „Jongleur“ nannte man demnach in Südfrankreich „sämtliche Dichter, Sänger und Musiker, die ihre Kunst um Lohn übten, ohne Rücksicht auf ihre Talente“. Wohingegen jene, „die sich mit der Kunstpoesie beschäftigten“, „Troubadours“ genannt wurden. Auch erfährt man in diesem Aufsatz viel über die Aufführungspraxis der Troubadours, dass sie im besten Fall auch singen und spielen und oft auch komponieren konnten. Und dass jeder Dichter, wenn möglich, ein oder mehrere Spielleute hatte, welche die Lieder dann vortrugen oder begleiteten und überhaupt sehr viel können sollten:
Endlich musste ein vollkommener Spielmann auch die Künste des Seiltänzers und Gauklers verstehen. Er tanzte, überschlug sich, sprang durch Reife, fing kleine Äpfel mit zwei Messern auf, ahmte den Gesang der Vögel nach, liess Hund und Affen ihre Kunststücke machen, lief und sprang auf einem hoch gespannten Seil, und spielte überhaupt den Lustigmacher.
Man möge sich also, in jeder Umblätter-Pause zwischen den einzelnen Übersetzungen, jeweils eine kleine Showeinlage dieser Art vorstellen.
Jacques Roubaud
Trobar, Sirventes, Begriffserklärungen, Teil II
Jacques Roubaud beginnt bei der Etymologie des Wortes „trobar“, die so aufschlussreich ist, dass ich ihn hier schlicht zitieren möchte:
Die Kunst des Trobadors hat einen Namen: trobar. Der Ursprung dieser Bezeichnung ist umstritten, gesichert ist jedoch, daß sie sich vom französischen Verb „trouver“ (finden) herleitet. Die Kunst des trobar ist eine Kunst der Entdeckung, der Erfindung: Die Trobadore sind solche, die das Lied, den Gesang, in seinen verschiedenen Aspekten finden, erfinden, imaginieren [...]
Dieses „Finden“ beinhaltet aber sehr viel Mühe, Können und Zeit, wie Jaques Roubaud ausführt. An den Liedern wird gefeilt, gewebt und geschmiedet, da jedes nach Vollendung strebt. Aber genug mit Hintergrundwissen, der nächste Sänger und seine Dolmetscherin warten schon ungeduldig darauf, gehört zu werden:
Peire d’Alvernhe / Uljana Wolf
Cantarai d’aquestz trobadors / sang von den tolpatzen troubadouren
Sehr unterhaltsam ist diese Übersetzung von Uljana Wolf, handelt es sich dabei doch um ein scherzhaftes Schmählied, in dem in jeder Strophe ein anderer Sängerkollege aufs Korn genommen wird:
der zweite ist giraut de bornelh
sein gesang: altes tuch oder fell
so fitzlig wie die stimme einer wasserträgerin
spiegel dich nicht im tiegel, bornelh
sonst siehst du dein wahres naturell
darin: zitternd und dünn
In der letzten Strophe macht sich Peire d’Alvernhe dann über sich selbst lustig und endet mit einer Aufforderung, die aber genauso gut auch als augenzwinkernde Drohung gelesen werden kann:
der vers wurde gemacht zu dudelsack
zwischen scherzen und gelach
(und du bist als nächster dran)
Wie die Überlieferung besagt, handelt es sich dabei um ein Dichterspiel. Bei Speis und Trank in großer Runde erhob sich Peire d’Alvernhe, trug dieses Lied vor und forderte damit anwesende Sänger heraus, es ihm gleich zu tun, worauf diese dann auch tatsächlich eingestiegen sind, was dann zu großen Gelächter und einem Wechselgesang führte.
Beatrix de Dia / Mara Genschel
A chantar m’er de so qu’ieu non volria / Daß ich jetzt schreiben muß, obwohl ich weine
Fin ioi me don‘ alegranssa / Mein Glück, das stimmt mich einfach fröhlich
Es folgen zwei Lieder von Beatrix de Dia in der Übersetzung von Mara Genschel. Das erste handelt von unglücklicher, unerwiderter Liebe, aber auf sehr selbstironische und humorvolle Weise:
Daß ich jetzt schreiben muß, obwohl ich weine,
kann nur bedeuten: Es geht um den Einen,
der Alles ist und den ich lieb wie keinen.
Dem ich so wertvoll wie ein drittes Bein bin.
Dabei ein schönes Bein, ein edles, kluges!
Doch weggestellt, betrogen, will mir scheinen,
als wäre ich nicht die, die für ihn gut ist.
Von diesem Lied gibt es zwei Übersetzungsvarianten, die sich in Nuancen unterscheiden. Der größte Unterschied findet sich in der ersten Zeile. Die erste Variante lautete ja „Daß ich jetzt schreiben muß, obwohl ich weine,“ In der zweiten wird in dieser Zeile wieder, wie im Original, gesungen: „Daß ich jetzt singen muß, obwohl ich weine,“. Ein weiterer Unterschied ist, dass der Geliebte in der ersten Variante noch mit „Du“ angesprochen wird, woraus in der zweiten ein „Euch“ wird. Ansonsten sind die Fassungen aber weitestgehend ident.
Das zweite Lied von Beatrix de Dia in der Übersetzung von Mara Genschel, Mein Glück, das stimmt mich einfach fröhlich, schlägt ganz andere Töne an. Hier lacht die Trobadora selbstbewusst dem Schwätzer ins Gesicht, der ihr ihr freies, fröhliches Leben nicht vergönnt. Auch von diesem Lied bietet Mara Genschel zwei Varianten an, die sich aber diesmal sehr stark voneinander unterscheiden
Bernart de Ventadorn / Léonce W. Lupette
Chantars no pot gaire valer / Singen wird nichts Gutes bringen
Hat man nur wenig Wissen über die Troubadourdichter, so würde man wohl schlicht Minnelieder von ihnen erwarten. Wie vielfältig ihre Dichtung aber war, das hat uns dieses Dossier inzwischen zur Genüge gelehrt. Daher überrascht es an dieser Stelle beinahe, plötzlich doch wieder ein ganz klassisches Minnelied vor sich zu haben. Bernart de Ventadorn setzt als Bedingung für ein gelungenes Lied wahre Liebe voraus und lobt dann quasi sein eigenes Lied, weil er ja diese Voraussetzung laut eigenen Worten mehr als erfüllt. Aber die Qualität des Liedes hängt nicht allein von der wahren Liebe seines Verfassers ab, aus der es entspringt, sondern auch von der Gemütsverfassung, mit der es gehört bzw. erhört wird:
Der Vers ist vollendet und rein,
und gut für den, der ihn erhört,
und noch besser, wenn freudig erwartet.
Bertran de Born / Konstantin Ames
Mon chan fenisc ab dol et ab maltraire / Mein Lied beschließ‘ ich schmerzlich, voller Leid
Das Lied von Bertran de Born ist dann ein starker Kontrast zu Bernart de Ventadorn. Denn es ist ein Klagelied, ein Nachruf auf einen jungen Herrscher. Der Herrscher wird über alles gelobt und es wird beschrieben, wie groß das Leid und die Trauer nach dessen frühem Tod ist und wie weitreichend, denn „selbst die Deutschen klagen Weh!“ Die letzten Zeilen offenbaren dann, dass der unerwartete Tod eines Herrschers auch eine große Bedrohung für seine Gefolgschaft und Untertanen mit sich bringt:
da ist nur der schmerzliche Tod,
dem Thron fehlt der Herrscher; uns droht
allen bald der faule Brodem, Hohn, die schiere Not.
Giraut de Bornelh / Léonce W. Lupette
Er’ auziretz Enchabalitz chantars / Jetzt höret Ihr das Schmieden prächtigen Lieds
Für dieses Lied bietet Léonce W. Lupette gleich zwei Varianten an, zunächst eine in eher gehobenem Stil, welche vieles andeutet, aber wenig direkt ausspricht. Und dann eine zweite, quasi unzensurierte und nicht mehr ganz jugendfreie Fassung, die gleich ganz anders an die Sache herangeht: „ Jetzt hört ihr, wie ich derbe Zeilen texte / Weil ich der derbste Typ und Kumpel bin!“
Marcabru / Mathias Traxler
L’autrier iost‘ una sebissa / Neulich. Schon ist die Straße wieder da
Komme extra vom Wege ab, um bei dir
zu sein, Honig. In Begleitung.
Weil so was ländlich Delikates
sollte nicht allein
mit wilden Tieren, Vieh und Schafen
an einem solchen Orte sein,
Schönes, und ganz einzeln.
Hierbei handelt es sich nun um einen Wechselgesang, ein ritterlicher Troubadour trifft auf ein Bauernmädchen, das sehr wohl zu kontern weiß und so necken und fordern sich die beiden gegenseitig heraus. Und nicht nur als Beispiel eines Wechselgesangs sticht dieser Beitrag heraus, auch der Umgang mit Sprache in der Übersetzung ist ein ganz besonderer, da sich das Lied stellenweise in zerhacktem Telegrammstil beinahe aufzulösen zu scheint, dann aber doch wieder zurückfindet zu einer etwas wortreicheren Sprache, was einen sehr fesselnden Spannungsbogen erzeugt, der immer wieder strapaziert, aber nie überspannt wird. Auch führt dieser Kontrast von ausformulierten Sätzen und Telegrammstil zu sehr starken Tempowechseln und einer großen Dynamik innerhalb des Textes.
Tibors / Mara Genschel
Bels dous amics, ben vos posc ver dir ... / Ich kann Dir versichern, schöner Freund ...
Wer Tibors war, darüber gibt das Autorenverzeichnis Aufschluss: „wahrscheinlich die erste Trobadora. [...] Von ihrem Werk ist lediglich ein einziges Fragment überliefert.“ Mara Genschel übersetzt dieses Fragment nun gleich in drei verschiedenen Versionen, die ähnlich sind, aber doch jeweils andere Nuancen ausdrücken. Die erste Fassung wirkt vergleichsweise neutral, sie stellt schlicht und einfach fest, was bisher festzustellen war. Die Blickrichtung ist daher in die Vergangenheit gerichtet: „bisher ist, wenn Du mal Reißaus genommen, / die Freude nicht vor Dir nach Haus gekommen, / bisher ...“ Variante zwei und drei sind da anders, da sich das Ende hier dreht und nicht mehr in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft blickt: „nie wieder, wenn Ihr mal wütend Reißaus nähmt, / käm Freude, bevor Ihr wieder nach Haus kämt, / nie wieder ...“ Diese zwei Varianten gehören zusammen, weil sie beinahe ident sind und sich nur die Anrede von „Ich kann Euch versichern“ zu „Ich kann Dir versichern“ ändert.
Peire Vidal / Sonja vom Brocke
De chantar m’era laissatz / Ich blieb leise, ohne Lied
Der Troubadour stilisiert sich hier zum Wolf, der von Hirten verhöhnt und gejagt wird und „selbst durch Hagel, Böe und Schnee“ zu seiner Wolfsfrau eilt. Wenn ich den Text richtig verstehe, scheint es davor, bevor er zum Wolf wurde, noch eine andere gegeben zu haben, für die er gern zum Lamm geworden wäre:
Lob und Preis erwart ich nicht,
bin kein Pfau, nicht so erpicht,
doch könnt ich der Ihre sein,
ich wär ein Lamm, bloß kleiner.
Wilhelm IX. von Aquitanien / Hans Thill
Companho, farai un vers qu’er covinen / Das wird dir jetzt gefallen, Kamerad
Der erste wird zum letzten wenn das Dossier als letzten Troubadour ausgerechnet Wilhelm IX. von Aquitanien vorstellt: „Erster weltlicher Lyriker des christlichen Europas, der in einer Volkssprache dichtete, somit: „der erste Troubador“.“, wie man im Autorenverzeichnis nachlesen kann Es ist wohl das mit Abstand seltsamste bzw. rätselhafteste Lied dieses Dossiers. Die Tatsache, dass es davon gleich zwei deutsche Versionen zu lesen gibt, multipliziert seine Vieldeutigkeit nur noch mehr, mindestens zum Quadrat. Um eine kleine Kostprobe hiervon zu geben möchte ich den Schluss der ersten Fassung zitieren: „Ein Gimel will nie mehr sein als / Luft im Ofen im Quadrat, ein Niol eher klein, / aber mein. Hm hm“
Diesem Lied ist eigentlich kaum mehr etwas zu ergänzen, möchte man meinen, aber es ist genau umgekehrt, stellt es doch gerade den Anfang der Troubadour-Dichtung dar.
Paul Blackburn
Der Geist eines Raimbaut sucht Les Beaux auf
Das Dossier endet in einem Gedicht, das sich thematisch mit der Troubadour-Dichtung befasst, bzw. eher mit dem Tratsch rund um diese, wie in den einleitenden Worten zu dem Gedicht nachzulesen ist: „Es ist überliefert, daß Raimbaut de Vaqueiras, Sohn eines verarmten Ritters aus der Provençe, der Geliebte von Madonna Biatrix war, [...]“ Es ist aber nicht von ungefähr, dass Paul Blackburn sich in diesem Gedicht thematisch mit der Troubadour-Dichtung auseinandersetzt, veröffentlichte er doch 1953 einen Band mit Trobador-Übersetzungen. Damit stellt das Dossier nicht nur eine Verbeugung vor den Troubadours und damit unseren Dichter-Vorgängern und –Vorgängerinnen dar, sondern verbeugt sich, mit Ezra Pound, Jaques Roubaud und Paul Blackburn, auch vor den Dolmetscher-Vorgängern auf diesem Gebiet. Und hierbei darf die Widmung nicht überlesen werden, ist doch das gesamte Dossier: „Gewidmet den Dolmetschern Friedrich Kittler und Thomas Kling“. Versteckt im Autorenverzeichnis gibt es dann auch noch eine Übersetzung von Thomas Kling nachzulesen, deren erste Zeile schon ein wunderbares Versprechen ist, mit welchem ich meine Rezension schließen möchte: „ich werd ein gedicht machn aus klarem nichts:“
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