Jede Ohnmacht hat ihre Geschichte
Im achten Kapitel des Romans von Omer Meir Wellber Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner gibt es folgende Stelle:
»Komm mit«, sagte Vater.
»Wohin?«
»Du musst was sehen« Es waren schon bald drei Sterne am Himmel. »Stell dich hier neben mich.«
Vater deutete auf das kleine Fenster hinter der Frauenabteilung.
»Warte hier, ich spring los und mach dir von drinnen auf«, flüsterte Leon mir zu.
Diese Sätze, die hier wie eine Einheit erscheinen, erzählen in Wirklichkeit von zwei völlig unterschiedlichen Situationen. Zum einen handelt das Kapitel davon, wie der junge Chaim sich zum ersten Mal in einer Synagoge den Gebetsmantel, den Tallit, anlegt, während gleichzeitig von einem Treffen des Jungen mit der Freundin seiner Kindheit Leon berichtet wird.
Ich beginne meine Besprechung mit dieser Szene, weil an ihr die im ganzen Buch herrschende Gleichzeitigkeit der Zeiten und Erzählebenen deutlich wird. Diese Art des Schreibens hat mir anfangs die Lektüre nicht leicht gemacht und einige Textstellen musste ich zweimal lesen, um zu verstehen, wovon die Rede ist. Aber je mehr ich mit der Geschichte vertraut wurde, konnte ich die sich oft auf einer Seite abwechselnden Szenen problemlos in den Gesamtzusammenhang einordnen.
Die vier Ohnmachten des am Ende der Handlung einhundertachtjährigen Chaim Birkner werden im letzten Kapitel – natürlich auch hier keineswegs chronologisch – beschrieben und im Grunde fassen sie seinen Lebensweg und die damit zusammenhängenden Traumata zusammen. Die erste Ohnmacht trifft ihn bei der Beerdigung seiner Frau Jael. Sie stirbt in Israel in einem Kibbuz, kurz nachdem seine Tochter Sharon geboren worden war. Zum zweiten Mal fällt er bei Leon in Ohnmacht, die er sein Leben lang liebte und nach seiner Flucht vor den Nazis aus Ungarn verloren hat.
»Ich habe auf eine Antwort von Vater gewartet. Er ist ausgewichen. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht den Mut, in ihn zu dringen. Mir platzte schier der Kopf von Worten, die ich gern sagen wollte, aber letzten Endes nicht gesagt habe. Ich wollte ihn fragen: Warum seid ihr nicht nach Israel gekommen? Warum habt ihr mich allein gelassen?«
Dies sagt Chaim zu seiner Mutter, kurz bevor er bei einem Treffen mit ihr in einer Hotelhalle in Ungarn zum dritten Mal in Ohnmacht fällt. Dass die Eltern ihn mit Hilfe eines Nazioffiziers gerettet und seine Flucht nach Israel ermöglicht haben, ohne, wie versprochen, nachzukommen, hat sein Leben nachdrücklich beeinflusst. Zum vierten Mal fällt er schließlich als uralter Mann in Ohnmacht, als er in seine Heimat zurückkehrt und mit einer Pflegerin die Wohnung seiner Kindheit betritt.
Der 1930 geborene Chaim lebt von Beginn an in einem Umfeld voller Unsicherheiten. Er solle nicht stehen bleiben, sagt sein Vater zu dem elfjährigen Sohn auf dem Weg zur Synagoge. »Tu so, als wären wir gar nicht da«, flüsterte er. Ein Ratschlag, den der entwurzelte Chaim sein Leben lang beherzigt und sich so durch sein Leben geschummelt und gelogen hat. Nach Jaels Tod flieht er nach einer Schlägerei aus dem Kibbuz und lässt seine Babytochter Sharon zurück. Jahrelang kümmert sich nicht um sie und verleugnet sie sogar. Fortan lebt er unter einem falschen Namen und so gelingt es ihm auch, sich der Einberufung in den Sinai-Feldzug zu entziehen.
Der zweite Krieg, dem ich entkommen musste, war der Sinai-Feldzug. Ich war schon sechsundzwanzig Jahre alt und sollte einrücken. Ich bin nicht naiv. Nicht, dass ich gegen Kriege wäre oder was, und ich habe auch prinzipiell kein Problem damit, dass Menschen für den Staat sterben, nur muss ich es nicht gerade sein, finde ich. Ich hatte einen Weltkrieg überstanden, ohne ein Held zu werden, und dabei sollte es auch bleiben. Als ich die Gefahr nahen sah, ging ich ihr sofort aus dem Weg.
Erst als seine erwachsene Tochter Sharon ihn um Hilfe bittet, übernimmt er aus schlechtem Gewissen heraus ein Stück Verantwortung. Sharon will nämlich einen äußerst orthodoxen Mann heiraten und dafür muss sie ihre jüdische Herkunft beweisen. Mit diesem Ereignis nimmt die Handlung noch einmal richtig Fahrt auf, denn die Familienforschung ergibt, dass sein Vater kein Rabbiner und die Großmutter väterlicherseits keine Jüdin war. Nicht genug: war doch die Mutter ursprünglich mit einem Rabbiner verheiratet und hat den Vater geheiratet, ohne jemals geschieden worden zu sein. Chaim kommt zu dem Schluss:
Noch ist das Museum nicht gebaut, das alle Versionen unserer Familie aufnehmen könnte.
Neben der traurigen und gleichzeitig unglaublichen Familiengeschichte erfahren wir auch Einiges über Israel. Dafür genügen dem Autor lakonische, knappe Bemerkungen, sei es über die Einwanderungsbehörde, über die strengen Regeln im Kibbuz, über die Tatsache, das der Sohn eines Bekannten eingezogen wurde oder er kritisiert in einem Satz , dass Sharon mit ihrem Mann in eine Siedlung gezogen sei.
Mit zunehmendem Alter von Chaim begeben wir uns in die Zukunft, denn wenn er 1930 geboren wurde, befinden wir uns mit dem Einhundertachtjährigen im Jahr 2038, in dem in Ungarn nur noch wenige japanische Autos Benziner sind.
Dies alles beschreibt Omer Meir Wellber nicht chronologisch und eher assoziativ. Immer wieder werden Ereignisse und Bilder wiederholt, man könnte sagen, wie Phrasen in einem Musikstück, denn Wellber ist ein bekannter Dirigent, der unter anderem auch schon in der Semperoper gearbeitet hat. Verfolgung und Flucht werden als prägend für das Leben des Protagonisten, für sein Entwurzeltsein dargestellt und dies mit einer Leichtigkeit, in der dennoch der Schrecken spürbar ist.
So beginnt der Roman damit, dass Chaim und sein Vater 1941 zwei Thorarollen aus der Synagoge mit nach Hause nehmen, die beim Abendessen mit ihnen am Tisch sitzen dürfen. So grotesk dies erscheinen mag, geschah es doch deshalb, weil die Thorarollen in der verlassenen Synagoge gefährdet waren.
Wie gesagt, Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner ist kein Roman, den man nebenbei lesen kann. Auf der anderen Seite hängt innerhalb dieser Geschichte alles mit allem zusammen und lässt sich nur so erzählen.
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