Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Nachgelassene Gedichte von Pablo Neruda

Hamburg

Unter den zahlreichen Publikationen des Luchterhand Verlags aus der Sammlung Pablo Neruda spielt die vorliegende Ausgabe eine besondere Rolle bei dem Bemühen um eine angestrebte vollständige Publikation aller Gedichte des chilenischen Nobelpreisträgers. Darío Oses, Leiter der Bibliothek und des Archivs der Fundación Pablo Neruda in Santiago, begründet in der Einleitung zu den nachgelassenen Gedichten diesen Anspruch wie folgt. Die 1986 gegründete Fundación widme sich der Aufgabe, die von der Witwe des Dichters Matilde Urrutias zusammengetragenen Manuskripte zu bewahren und zu schützen. Im Falle der hier erstmals  veröffentlichten einundzwanzig Gedichte aus dem Nachlass von Neruda, die ihr bei der Durchsicht aller Manuskripte entgangen waren, handelt es sich um meist handgeschriebene Texte, die in verschiedenen Heften, auf Einzelblättern und sogar auf einer Speisekarte entdeckt wurden. Alle Gedichte, die aus unterschiedlichen Jahren stammen, sind in einem ausführlichen Anhang beschrieben. Fünf Gedichte aus diesem Bestand, abgedruckt auf einem hellen ockerbraunen Hintergrund, schmücken als Faksimiles den eindrucksvoll gestalteten Gedichtband. Auffällig ist dort der rasch dahineilende Duktus seiner Handschrift, die verhältnismäßig geringen Streichungen und die wenigen Hervorhebungen von Worten, deren Etymologie auf Toponyme oder Choronyme verweisen. Die meisten Faksimiles bezeugen einen Gedankenstrom, der die metaphernreichen „Bilder“ scheinbar mühelos über das Papier schweben lässt. Verweisen solche Vermutungen auf das Bekenntnis des Dichters, viele seiner Poeme habe er seiner Matilde gewidmet? Schon der erste Blick auf den Text Nr. 1 bestätigt diese überlieferte Aussage von Neruda.

Deine Füße fasse ich im Schatten, deine Hände im Licht, / und im Flug leiten mich deine Adleraugen / Matilde, die Küsse, die dein Mund mich lehrte,/ lehrten meine Lippen das Feuer./ … / als ich meine Ohren an deine Brüste legte, / verkündete mein Blut* deine araukanische Silbe.“ (S. 15)

Das Zeichen * erfährt an dieser Stelle die Anmerkung unlesbar. Das laut Kommentar zwischen 1959 und 1960 entstandene Liebesgedicht enthält leider keinen deutenden Verweis auf die „araukanische Silbe“, die auf eine balladenartige Dichtung der spanischen Renaissancezeit anspielt.

Den ersten sechs Gedichte, die das Merkmal ‚Liebesgedichte‘ tragen, folgen „andere Gedichte“, in denen unterschiedliche Topoi auftauchen. Sie sind unter anderen einem jungen Dichter gewidmet, warnen vor den leeren Eitelkeiten, mit denen auch reife Dichter überhäuft werden, enthalten poetologische Reflexionen, setzen sich mit der überbordenden Reiselust der reichen Chilenen und dem Verzicht der armen Landsleute auf ferne Länder auseinander. Sie poetisieren sogar nach der Nachricht von den ersten Weltraumflügen sowjetischer Kosmonauten den „reinen Weltraum / zwischen den Sternen, fein und feucht“ (S. 76).

Die Gedichte 8 bis 12 gehören in den Bereich der vielfältigen, umfangreichen Oden-Dichtung, die Nerudas Ruhm begründet hat. Sie erfassen ausgewählte Augenblicke, in denen Naturelemente ihre Pracht entfalten. Dazu gehört auch die Apotheose auf menschliche sichtbare Organe wie im Gedicht Nr. 10: „Wundervolles Ohr, /doppelter / Schmetterling / höre / dein Lob/…“ (S. 47). Oder das Gedicht Nr. 14, in dem das lyrische Ich von einem Pflanzenpferd spricht, von dem sich die „wohlerzogenen Leute“ nicht rechtzeitig verabschieden, weil „der Mensch ist beschäftigt heute / betrachtet nicht den tiefen Wald/“ (S. 55).

Das einzige mit einem Titel versehene Gedicht „An die Anden“ widmet sich der bizarren Bergwelt rund um den Aconcagua, dem höchsten Gipfel in Südamerika, beklagt den Trauerflug der Kondore, singt aber auch ein Loblied auf die Chilenen, die im Frühlingserwachen auch ihren nationalen Stolz wieder finden. Die zu Beginn der 1950er Jahre entstandene elementare Ode greift, wie Darío Oses betont, die wiederholt im Werk Neruda auftretenden Themen wie Berglandschaft, Bergbau und die Insel Isla Negra auf. Sie zeugen nicht nur von der Vielseitigkeit seines Schaffens, sondern auch von dem klassenbewussten Engagement für die Ärmsten unter den Chilenen. Dieser wesentliche Aspekt seines dichterischen Schaffens kommt in den nachgelassenen Gedichten kaum zum Tragen. Möglicherweise aber sind solche Texte während der Durchsuchung seines Domizils auf der Isla Negra zu Beginn des Militärputsches gegen Präsident Allende in den Septembertagen des Jahres 1973 beschlagnahmt und später vernichtet worden. Eine solche These von der gezielten Vernichtung bestimmter Aspekte des dichterischen Werkes würde auch auf die offizielle Stellungnahme der Militärjunta über die Todesursache des Dichters verweisen. Pablo Neruda sei an Prostatakrebs gestorben. Eine Diagnose, die in den Oktobertagen des Jahres 2017 durch eine internationale Ärztegruppe widerlegt worden ist. Ihr Untersuchungsergebnis enthält einen eindeutigen Befund: Der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1971 ist während seines Krankenhausaufenthaltes im September 1973 vergiftet worden. Die auf der Originalausgabe Barcelona 2014 „Tus pies toco en la sombra“ beruhende deutschsprachige Übertragung der Gedichte von Susanne Lange wie auch die Einführung in das schwierige Feld der Quellensuche und die Bewahrung des wertvollen dichterischen Erbes durch den Leiter des Archivs der Fundación enthalten noch keinen Hinweis auf diese äußeren Umstände bei der Rettung von Manuskripten. Eine Feststellung, die möglicherweise in der nahen Zukunft durch weitere faits accomplis korrigiert wird. Auf jeden Fall liegt mit dem ornamental gestalteten und durch Faksimiles dokumentierten Band ein weiteres Zeugnis für die poetische Meisterschaft aus dem Nachlass von Neruda vor, dessen Gedichte von der Nachdichterin Susanne Lange getreu und mit viel Empathie übertragen worden sind.

Pablo Neruda
Dich suchte ich / Nachgelassene Gedichte
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Luchterhand
2017 · 144 Seiten · 18,00 Euro
ISBN:
978-3-630-87508-8

Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge