Gedichte von Pablo Neruda / Band 1-3
Das dichterische Werk von Pablo Neruda (1904 bis 1973) hat in seiner thematischen und poetischen Vielschichtigkeit, ästhetischen Anziehungskraft und ideologisch-politischen Widersprüchlichkeit weltweit hohe Anerkennung in dutzenden Sprachen gefunden. Im deutschsprachigen Raum hat es unter der Obhut des Romanisten und Übersetzers Karsten Garscha seit den 1980er Jahren eine besonders differenzierte Beleuchtung erfahren. „Der Dichter ist kein verlorener Stein. Über Pablo Neruda“ bildete in der bei Luchterhand herausgegebenen Monografie (1983) den Auftakt zu Garschas intensiver Auseinandersetzung mit dem lyrischen und essayistischen Werk Nerudas und dessen Rezeption vor allem im Kontext der lateinamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. In zahlreichen Ausgaben einzelner Gedichtzyklen Nerudas (in der Übersetzung von Erich Arendt, Katja-Hayek Arendt, Fritz Rudolf Fries, Fritz Vogelgsang, Monika Lopez, Tias, vgl. Bd. 3, S. 876, nicht S. 879!) als bekannteste Nachdichter/innen Nerudas) wie auch in literaturhistorischen und literaturwissenschaftlichen Publikationen wie „Exilerfahrung und Literatur. Lateinamerikanische Autoren in Spanien“ (1990) oder „Kulturelle Heterogenität“ in Lateinamerika“ (1991) hat er den Nachweis erbracht, im deutschsprachigen Raum der renommierteste Herausgeber und Kommentator des chilenischen Nobelpreisträgers zu sein.
In der Ende 2009 erschienenen dreibändigen Ausgabe der Gedichte Nerudas, deren Copyright bei der Stiftung Pablo Neruda und für die deutsche Ausgabe beim Luchterhand Literaturverlag liegt, verzichtet der Herausgeber auf eine kurze Einführung in Leben und Werk. Stattdessen ist in jedem der vorliegenden Bände nach dem Abdruck der Gedichtzyklen dieselbe Chronologie der wichtigsten Lebensabschnitte von Pablo Nerudas und der Publikation seiner bedeutendsten Werke abgedruckt. Fürchtete der Herausgeber, dass die in einem Schuber gebündelten Bücher nur „Einzelband“-Leser finden werden? Selbst wenn ein Leser nur zu einem Band greifen würde, er fände außer der Auflistung von Namen und Orten, die in den lyrischen Texten auftauchen, keinerlei Hinweise auf die Entstehung der jeweiligen Zyklen und deren Einordnung in das Gesamtwerk des Chilenen. Es wäre deshalb empfehlenswert gewesen, an den Anfang des ersten Bandes eine fundierte Einführung in Leben und Werk von Pablo Neruda zu geben. Sie hätte die mit Jahreszahlen versehenen, der Chronologie ihrer Entstehung nach abgedruckten Gedichtzyklen in thematische und poetologische Kontexte eingebettet. Mehr noch: sie hätte wichtige Hinweise auf die dynamische dichterische Karriere von Neruda und die in ihr angelegte, oft rätselhafte Widersprüchlichkeit und zugleich erstaunliche Modernität geliefert.
Solche offensichtlichen Lücken in der vorliegenden voluminösen deutschsprachigen Ausgabe sind nur dann zu füllen, wenn die Poetik dieses Werkes unter Verweis auf Schaffensphasen und Lebensabschnitte aufgezeigt wird. Damit würde auch der so breit gefächerte Rezeptionsprozess für ein größeres Publikum durchsichtiger, das mit dem Namen des Nobelpreisträgers und dessen Schaffen vor allem den Befreiungskampf der lateinamerikanischen Völker verbindet. Über andere wesentliche Themen in dem so breit angelegten Werkes jedoch nur lückenhaft informiert ist und deshalb im Stich gelassen wird bei der Zuordnung der Gedichte. So verweisen die Titel der Gedichtzyklen im Band I: Balladen von den blauen Fenstern, Zwanzig Liebesgedichte, Der rasende Schleuderer, Aufenthalt auf Erden, Spanien im Herzen, Der Große Gesang, Die Verse des Kapitäns, entstanden zwischen 1919 und 1952, auf eine breite Palette von Orten, historischen Ereignissen wie auch von Brüchen in der poetischen Erfassung von realen und fiktiven Gegenständen. Eine aufmerksame Lektüre der beiden ersten Zyklen aus Nerudas Jugendzeit, den Balladen aus den Jahren 1919/20 und den Liebesgedichten (1924), würde zum Beispiel bei deren vergleichender Bewertung den eklatanten Bruch in der poetischen Anlage feststellen, ohne die besondere Bedeutung der Liebesgedichte sowohl für das Werk als auch für die einsetzende weltweite Anerkennung der Neruda’schen Dichtung zu erkennen. Einige Beispiele sollen die enge Verbindung von poetischer Eleganz, ideologischer Verengung, Empathie und Irrtum in der Dichtung des Meisters verdeutlichen. Die begeisterte Aufnahme des Zyklus ‚Spanien im Herzen’ (1936-45) in Der Große Schleuderer mit der leidenschaftlichen Beschreibung des Kampfes der Republikaner gegen die Frankisten in Madrid 1936: „Madrid, einsam und erhaben, Juli überraschte / dich in deiner Fröhlichkeit / einer bescheidenen Bienenwabe; hell war deine / Straße, / hell dein Traum. / Schwarzes Rülpsen / von Generälen, / eine Woge / wütender Soutanen / brach ihre Schlammfluten, ihre Flüsse Schleims / an deinen Knien.“ (Bd. 1, S. 234; Übersetzung: Fritz Vogelgsang). Oder Der Große Gesang aus dem Jahr 1950 mit der Anrufung der Völker Süd- und Mittelamerikas. Zu diesem Zeitpunkt ist Neruda bereits stark von der kommunistischen Ideologie beeinflusst. In ‚Die Ströme des Gesanges’ widmet er sich dem Leiden des kubanischen Volkes, vergleicht dessen Freiheitsdrang mit dem erfolgreichen Kampf der Roten Armee in China: „Miguel, fern vom Gefängnis von Osuna, fern / der Grausamkeit, führt Mao-Tse-tung / deine zerfetzte Poesie in den Kampf, / unserem Sieg entgegen. / Und Prag, von Leben brausend, / erbaut den süßen Bienenstock, den du besungen.“ (Bd. I, S. 683, Übersetzung: Erich Arendt). Und unter dem Eindruck der Verleihung des Stalinpreises 1953 widmet er sich in Die Trauben und der Wind (1954) den gigantischen Umgestaltungsplänen der eben entstandenen kommunistischen Regimes in Ost- und Ostmitteleuropa und den alten europäischen Kulturen, in ‚Der Wind über Asien’ begeistert er sich an dem Aufmarsch der chinesischen Volksmassen in Peking im Antlitz von Mao, in ‚Weit ist die neue Welt’ besingt er die Völker der Sowjetunion, betrauert den Tod des Genossen Stalin und lobt den Kommunismus: „Mensch sein! Das ist / das Stalinische Gesetz! / Kommunist sein ist schwer. / Man muß es werden lernen./ Kommunistischer Mensch sein / ist schwerer noch, / und man muß von Stalin lernen / diese heitere innere Kraft, / seine konkrete Klarheit, / seine Verachtung / des leeren Schön-Geredes… / Er ging ohne Umschweif daran, / den Knoten zu entwirren. (Bd. II, S. 119, Übersetzung: Erich Arendt).
Und im gleichen Zeitraum die Elementaren Oden (1954), die Neuen Elementaren Oden (1956). Was für ein Feuerwerk poetischer Huldigung der Natur, welche wunderbaren Einblicke in Gärten, Felsenlandschaften, Meerestiefen, Oden auf Tiere, berühmte Dichter und Farben! Ein Beispiel belegt seine einmalige Position als Naturdichter, der gleichsam alle Elemente miteinander zu verbinden weiß: „Großer Bienenschwarm! /Ein und aus fliegt er, /aus dem Karminrot, dem Blau, / Dem Gelb, / der zartesten Zartheit der Welt: /Einzieht er in / eine Blumenkrone / voll Hast, / Geschäfte zu treiben, / und kommt hervor / mit goldenem Kleid / und einer Unzahl / gelblicher Stiefel.“ (Bd. II, S. 712, Übersetzung: Erich Arendt). Es gehört zu den wunderbaren Einsichten in die Dichtung Nerudas, dass in ihr der Naturbegriff einer Reihe von Wandlungen ausgesetzt war. Manuel Duran und Margery Safir haben in ihrer Monografie „Earth Tones. The Poetry of Pablo Neruda“ (Bloomington 1981) fünf Perioden herausgearbeitet. In der vierten Periode, die mit dem Canto General einsetzt, „sucht Neruda die Natur in ihrem Urzustand. Er versucht die anfängliche Unschuld wieder herzustellen, das verlorene Paradies, er taucht in die urzeitliche Welt, in der Pflanzen und Tiere erst im Begriff sind, zu entstehen. … In diesem Band definiert Neruda einen einzigartigen Zugang zur Natur: die Personifizierung der Natur, dann und wann ihre Mystifizierung, Naturpoesie als Erzählweise wie auch als Beschreibung.“ (S. 72)
Und in der fünfte Periode? In den sprachmächtigen Zyklen Memorial von Isla Negra (1964), Die Hände des Tages (1968), Weltende (1969), Beben des Meeres (1970) wie auch in den postum publizierten Die abgeschnittene Rose (1974) und Das gelbe Herz (1974), Das Meer und die Glocken (1974) wie auch sein kleiner hellsichtiger Zyklus 2000 (1974) spürt ein sensibler Neruda-Leser, wie der über Jahrzehnte in seinem Werk entwickelte Evolutionsstrang der Natur abbricht und die intensive Betrachtung der einzelnen Elemente einsetzt. Die Steine aus Chile, Der Gesang der Vögel individualisieren sich, der brennpunktartige Blick auf die einzelnen poetisierten Gegenstände öffnet die Perspektive auf einen ursprünglichen Zustand der Welt vor der Erfindung der Buchstaben. In einer „paradiesischen“ Welt also, in der nach Neruda die Poesie wie Brot war, das die Bauern sich mit den Gelehrten geteilt haben.
Doch Pablo Neruda war auch, ungeachtet seiner zeitweiligen ideologischen Verblendung, ein großer weiser Dichter, der ein bitteres Resümee von seinem Jahrhundert geliefert hat. In ‚Die Masken’ aus 2000 (1974) sagt er: „Habt Erbarmen mit diesen Jahrhunderten und mit /denen die glücklich / oder geschunden sie überlebten; was wir nicht schafften, / war niemandes Schuld, es fehlte am Stahl, / wir verbrauchten ihn für so viel nutzlose Zerstörung, / für die Bilanz besagt dies alles nichts: / Die Jahre litten an Pusteln und Kriegen, / hinfällige Jahre, wo die Hoffnung / auf dem Grund der feindlichen Flaschen zitterte / … / ich schäme mich, wir haben die Scheu von Witwern: es starb die Wahrheit, sie ist verwest in so vielen Gräbern.“ (Bd. III, S. 677, Übersetzung Monika López).
Dieses Spätwerk ist ein Füllhorn der Weisheit, der Einsichten in die unerbittliche, grausame Geschichte, deren Zeuge Pablo Neruda auf drei Kontinenten war. Die in freien Rhythmen gestalteten Verse öffnen Blicke auf Felder, auf denen die Sieger der Geschichte wechselnde Masken tragen und als gewissenlose „Volksführer“ Millionen blindwütig in immer neue Unglücke gestürzt haben. Solche Erkenntnisse verdichten sich seit Mitte der 1960er Jahre, als Neruda als Mitglied der KP Chile einerseits den Befreiungskampf der Bauern und Arbeiter gegen das spätfeudalistische Regime im eigenen Land mit aller Kraft unterstützt, andererseits die Repressionsmechanismen der kommunistischen Staaten in Europa immer deutlicher wahrnimmt. Auch aus diesem Grund unterscheiden sich die Gedichte Ausgewählte Mängel (1974) aus dem Nachlass des Dichters von dem poetischen Werk der 1960er Jahre. Es sind ironisch-sarkastische, oft aphoristisch verkürzte Gedanken, die gleichsam aus dem Jenseits die einstigen Zeitgenossen bewerten, ihre Torheiten noch einmal in den Blick nehmen, wie in ‚Hier muss ich durch’: „Was für ein heiler, heilverheißender Genosse! / Runde um Runde dreht er in der Arena / meiner Republik, und mir scheint, / das Lächeln müsse ihm längst vergangen sein, / vom Bretterpodest gefallen, vom Fahrrad, / auf den Stierkampfplatz, in den Weltkampfring, / größer noch unter dem politischen Licht, / aber nein, keineswegs: immer der Unbeirrbare, / der Tadellose mit dem strahlendem Gebiß.“ (Bd. III, S. 836, Übersetzung: Monika López).
Das hier vorliegende Werk von Pablo Neruda, das keine Werkausgabe ist, präsentiert auf knapp 3000 Seiten ein bislang einmaliges Zeugnis einer sprachmächtigen Dichtung, die das 20. Jahrhundert in all seiner Dynamik und Vielschichtigkeit, seinen Irrtümern und Grausamkeiten erfasst. Die jedem Band beigefügten Namen und Daten können deshalb nur annähernd die historischen Bedingungen und persönlichen Umstände verdeutlichen, die in den mehr als zwanzig Gedichtzyklen die wesentlichsten inhaltlichen Komponenten bilden. Doch sie bilden die Stützpfeiler, an denen sich Neruda-Leser orientieren können, wenn sie mit wachsender Empathie und Lust die meist adäquat übertragenen Verse rezitieren. Denn laut, mit leidenschaftlicher Gestik und Mimik sollten sie gelesen werden. Der Meister wird ihnen auf jeden Fall zuhören, wie er bereits in der Parodie auf einen Kämpfer andeutete: „Ich seh euch doch von hier oben, / lauft ja ganz täppisch ohne meine Füße, / ohne meinen Ratschlag.“ (Bd. III, S. 845, Übersetzung: Monika López).
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