„Fußwege sind Kopfwege“ (Herta Müller)
Ich kannte weder den Autor, noch wusste ich viel über das Buch, als ich „Die Wanderung“ zu lesen begann. Ich habe wohl etwas erwartet, das diesem Zitat entspricht, das Anne Carson in ihrer Anthropologie des Wassers anführt:
„Seit uralten Zeiten pilgern die Menschen von Ort zu Ort in dem festen Glauben, dass eine Frage aufbrechen kann in eine Antwort wie Wasser in Durst.“
Was ich dann gelesen habe waren sieben kurze Geschichten von Reisen, die letztendlich Lebensreisen waren, Reisen zu sich selbst.
Es sind handfeste Dinge; Essen, Tiere, Natur, die die Geschichten von Patrick Frey dominieren.
Seine Reisen, im Klappentext steht, dass Frey viel und gerne reist, könnte man nun aufgrund der Lektüre behaupten, sind eher Reisen in Flora und Fauna fremder Länder, nicht so sehr zu den Menschen und ihren fremden Kulturen, aber wer weiß, ob dieser Autor sich nicht einfach nur bewusst entschieden hat, sein Innenleben und das, was er denkt, nur in Gestalt formalisierter Muster von Märchen und Gespenstergeschichten, wieder zu geben? Vielleicht um sich zu schützen, weil im wahren Leben die Erlösung selten durch ein Wunder, oder aufgrund einer bestandenen Prüfung von außen kommt, sondern in einem langen, schmerzhaften Weg von jedem Einzelnen selbst gefunden, errungen werden muss.
Interessant ist, dass, sobald der Erzähler das Märchenreich betreten hat, die Natur unspezifisch wird, es gibt nur noch Vögel und Schmetterlinge, statt Zitronenfalter und Elstern.
Das „Verwandeln“ von Erfahrungen in Geschichten geschieht bei Frey, indem er sich der Folie von Märchen bedient. Die märchenhaften Formeln ermöglichen es dem Autor, seinen Erfahrungen und Erlebnissen eine Form zu geben.
Dabei müssen stets Fehler gesühnt und Unrecht wieder gut gemacht werden.
„Der Inhalt der Flasche hatte ihn unangreifbar gemacht.“ Es sind diese naiven Träumereien und Wunschgedanken, die Freys Geschichten dominieren. Immer wieder müssen Rätsel gelöst und Aufgaben bewältigt, richtig von falsch unterschieden werden. Offene Enden gibt es bei Frey so wenig wie im Märchen. Alles wird aufgelöst und zu einem eindeutigen, meist guten Ende, geführt.
Stilistisch herrschen klare einfache Sätze vor, ab und zu liest man Allgemeinplätze und Klischees, der „Wurzelsaft schmeckt merkwürdig“ schon bevor er getrunken wird. „Komm herein, sagte sie und stellte mir ein Glas mit einem merkwürdig schmeckenden Wurzelsaft hin. Ich trank ihn.“ Die Angst ist panisch und man rast mit hoher Geschwindigkeit, das Frühstück ist stets kräftig.
Die Naturbeobachtungen aber sind detailliert und klar: „Ein Ziegenmelker, ein nachtaktiver Vogel, segelte mit geöffnetem Schnabel hinter einem von ihnen her und frass ihn.“
Patrick Frey erzählt seine Geschichten streng chronologisch, Handlung reiht sich an Handlung. Die Gefühle der auftretenden Menschen zeigen sich jedoch selten in Handlungen, in den meisten Fällen werden sie mit Adjektiven beschrieben; „He schaut, eine Katze!, rief der Junge vergnügt. Wo kommt die denn her?, fragte der Vater entsetzt. Ich weiss auch nicht, meint die Mutter etwas ratlos“ usw. usf.
Innenräume werden sehr detailliert beschrieben, auffällig ist weiterhin, dass in jeder Geschichte Essen eine große Rolle spielt, sei es das „kräftige Frühstück“ das auf der „Wanderung“ immer wieder eingenommen wird, sei es das opulente Menü, das in „Spuk in der Villa“ beschrieben wird, oder die tägliche Nahrungssuche der Katze auf Weltreise.
Als vielleicht nicht ganz unwichtige Nebenbemerkung sei erwähnt, dass es in „Die Wanderung“ kein einziges „ß“ gibt. Das liegt an der Schweizer Rechtschreibung. Seit den 70er Jahren wurde das „ß“ in der Schweiz immer unpopulärer. 1974 stellte die NZ die Rechtschreibung um.
Wichtiger scheint die Information, dass der Autor des Buches, Patrick Frey, Autist ist. Autismus, so habe ich mir angelesen, ist wesentlich eine innere Zurückgezogenheit, die Unfähigkeit Reaktionen der anderen voraussagen zu können, sich in andere einzufühlen. Autisten können diese Fähigkeiten erlernen, aber es wird sich für sie niemals natürlich anfühlen, ein Rest Unsicherheit bleibt stets.
Ich würde gerne diese überhebliche Warte überwinden, die fragt, warum dieses Buch verlegt worden ist, obwohl es doch stilistisch viele Mängel aufweist, obwohl es offensichtlich keine Literatur ist. Diese Überheblichkeit, die Merkmale für den Autismus des Autors darin zu finden glaubt, dass die auftretenden Menschen ihre Gefühle ausschließlich in den ihnen angehängten Adjektiven ausdrücken können.
Obwohl sich die Gesellschaft scheinbar dem Phänomen „Autismus“ mehr und mehr öffnet, ist dieses Buch etwas Besonderes. Denn hier öffnet ein Betroffener selbst die Pforten zu seiner Welt, und gewährt einen Einblick in dieses ganz eigene Universum.
Insofern ist die Wanderung ein Weg, der in zwei Richtungen führt; den Autor hinaus in die Welt, und den Leser hinein in die Welt des Autors.
Fixpoetry 2017
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