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Kritik

Poetische Abwegweiser

Hamburg

Karten, so möchte man annehmen, sind ehrliche Makler zwischen uns und der realen Welt. Sie bauen auf die geografischen Erfahrungen von Menschen, die Wege vor uns gegangen oder gefahren sind, in neuerer Zeit auch auf Luftbilder und Satellitenaufnahmen. Wenn wir uns nicht auf sie verlassen können, sind Verspätungen, ja vielleicht folgenschwere (Ver-)Irrungen vorprogrammiert.

Nun ist bekannt, dass auch moderne Straßenkarten nicht immer die Wirklichkeit abbilden. Oft sind etwa militärische Sperrbereiche nicht detailliert wiedergegeben oder ihre Kenntlichmachung fehlt ganz. Auch die digitalen Nachkommen GPS und Navi machen da keine Ausnahme, unterliegen bisweilen intransparenten Manipulationsmöglichkeiten.

Und auch die DichterInnen manipulieren uns Lesende nicht selten mit der Aufzeichnung ihrer Wege. Patrick Wilden, geboren 1973 in Paderborn und nach Lebensstationen in Kassel, Tübingen und Stuttgart nun seit Jahren in Dresden ansässig, wo er unter anderem für die renommierte Literaturzeitschrift "Ostragehege" tätig ist, macht da keine Ausnahme.

In seinem Debutband geht es um das Unterwegssein, das Reisen im erweiterten Sinn. Seine Gedichte kartieren die das lyrische Subjekt (mal ein Ich, ein Du oder ein Wir) umgebende Umwelt auf ihre spezifische Art und Weise selbst, auch wenn sie sich, wie in dem mit dem Titel "Alte Karten" bezeichneten Zyklus, auf vorhandenes, antiquarisches Material beziehen. Doch die Schwierigkeiten, diese Überlieferungen auch angemessen zu deuten, offenbaren sich bereits im ersten Gedicht des betreffenden Abschnitts:

"Legende // Eine Stange gleich acht Ellen / ein Lachter gleich neun Schuh / ein Klafter gleich sieben Schuh / ein Schritt gleich drei Schuh / eine Elle gleich zwei Schuh / ein Dresdner Schuh gleich / achtundzwanzig Zentimeter"

Denn ist der "Dresdner" Schuh der tatsächlich auch für die anderen angegebenen Maßeinheiten verbindliche Umrechnungsfaktor? Was für Sachsen gilt, muss ja nicht unbedingt auch in Flandern oder anderswo Bestand haben. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass das poetische Verfahren von Patrick Wilden wohl auf gewisse Weise mit dem so genannten "deep mapping" zu tun hat, jener in letzter Zeit aus den USA importierten literarischen Methode, in Form von Ort-Zeit-Verknüpfungen über die rein topographische Dimension hinaus vor allem Arbeiten mit dokumentarischem Charakter zu entwickeln. Das Dokumentarische und der Topos des Ländlichen, der den meisten in dieser Richtung erschienenen literarischen Hervorbringungen innewohnt, steht bei Wilden zwar offensichtlich nicht im Vordergrund; wohl aber das Ansinnen äußere Form, semantischen Gehalt und die semiotische Verschiebung vom gemalt-gedruckten Zeichen, etwa für Fluss oder Berg, hin zu sinntragenden sprachlichen Morphemen miteinander in Einklang zu bringen. Bei dem Gedicht "Drei alte Karten" wird dies besonders deutlich. Es ist aus drei kleinen Texten in engem Blocksatz aufgebaut, die für sich genommen schon äußerlich wie rechteckige Karten aussehen und in denen eine permutierende Engführung von Orten, Personen, Artefakten und Sprache hergestellt wird:

"[...] Meine Liebe singt nicht / vom Flachland und seinen / Quellen unter der Zunge / zerbrechen die Worte Orte / verflüssigen sich sie trinkt / Sprachen wie kalte Luft [...]"

Diese "Karten" konstruieren ganz neue Bezüge zwischen den Dingen, was vor allem im Zyklus "Landzunge" in Form von "Sprachnachrichten" wieder aufgenommen wird, längeren ebenfalls im Blocksatz präsentierten Gedichten, in denen vielschichtige Assoziationsketten miteinander in Verbindung treten, denen sich die Leserschaft zunächst einmal vertrauensvoll überlassen muss, bevor sie zwischen geborstenen Begriffen ihren eigenen Weg aus der imaginären Karte lesen zu lernen vermag. Dabei verhehlt das lyrische Subjekt nicht seine eigene Unsicherheit:

"[...] verlang nicht von / mir daß ich verstehe wie ich selbst durch / die Trümmer gehe es fällt ihnen leicht die / Wörter zu stürzen // sie passen nicht mehr aufeinander und du verlangst von mir daß ich gehe verstehe / spreche"

Dieser Umstand nimmt ein Inger-Christensen-Zitat vom Beginn des Buches auf, in welchem die Crux des hermeneutischen Zirkels aufscheint: das Finden des Wegs und das Zeichnen der Karte bedingen einander, beide Vorgänge müssen parallel und in Abhängigkeit voneinander ablaufen. Was vor uns liegt bleibt ein Rätsel, wie etwa in dem Gedicht "Routenplaner" aus dem zweiten Zyklus des Buches, in welchem es am Schluss heißt:

"[...] 'You are here' darüber / steht 'die Verbindung liegt / in der Vergangenheit' / [...] jenseits deines Standorts / wird die Linie unscharf"

Die Reisen, auf die wir uns mit Patrick Wilden begeben, nehmen mitunter unerwartete, manchmal ironische Wendungen wie in einem Text über die Verkehrsausdünnung in Ostdeutschland und die ausbleibenden Busse:

"[...] Der Letzte ist / vor Jahren abgefahren / und ließ uns möglicherweise / als Versteinerungen zurück"

Einige Texte arbeiten mit metaphorischen Überblendungen aus unterschiedlichen Verständnisebenen, die eine Art verfremdetes Wiedererkennen hervorrufen: "[...] Schnapp deine Gedanken sonst / reißen sie sie ab wie das alte / Betriebsgelände am Friedhof" oder "Seit die Grenze neu ins Land gedacht wurde / spürst du überm Fluß die kalte Spannung der Netze [...]", was gut mit dem alles umspannenden Sujet der Wegfindung korrespondiert.

Das den fünf kleinen Zyklen vorangestellte Mottogedicht schließt mit der Aufforderung: "[...] schreib dein Buch nicht zu Ende". Diesem Rat an sich selbst scheint der Dichter nachgekommen zu sein, denn die letzten Verse des Bandes zeigen, dass ein Verbleib in der Parallelwelt der Poesie, "nur einen winzigen Schritt / entfernt von der Realität" unabdingbar ist: "Ich bin zu schwach zu erwachen / die Nacht zu lassen den Weg / zu gehen zurück in den Tag". Aus dieser Sphäre, so darf sein Publikum hoffen, wird von Patrick Wilden immer wieder etwas Neues zu lesen und zu hören sein.

 

Patrick Wilden
Alte Karten von Flandern
lesezeichen e.v.
2019
ISBN:
978-3000639418

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