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Kritik

Die Ungeborenen

Hamburg

Ein sehr schönes Thema gibt Peter Stamm mit Die Ungeborenen in den Akzenten 2/2019 aus. Wiewohl auch das mehrheitliche Verfahren im Heft interessant ist: nie das Licht der Welt erblickende ProtagonistInnen aus aufgegebenen Werken, mit einem Textausschnitt und einem Kommentar ihrer UrheberInnen. Die insgesamt recht prosalastige Ausgabe wird vervollständigt durch eine gelungene Kunststrecke von Marcel Gähler, der projizierte Schnappschüsse mitsamt Leinwand erneut fotografiert und diese abstrahierten Eindrücke mit einem Bleistift unprojiziert in Zeichnungen rücküberträgt: atmosphärisch.

Peter Stamm schreibt im Vorwort:

Figuren sind einfach zu erschaffen, der Zeugungsakt ist wie in der Realität auch in der Fiktion zugleich lustvoll und verhältnismäßig unkompliziert [...] Was aber geschieht mit literarischen Figuren, wenn es vom Autor oder der Autorin aufgegeben wird? Wie viele wunderbare Figuren sind in Manuskripten gefangen, in einer Art Limbus, nicht tot und doch nicht lebendig?

Dies ist eine funktionierende Art, brüchige Texte vorzustellen. Besonders die Verbindung mit den Kommentaren, sofern hinzugereicht, machen ein fast neues Genre her. Bisweilen ist der Textausschnitt allerdings in der Tat schwach, oder zu kurz, um jenen Figuren so etwas wie eine Performanz zuzuspielen. Im mit besten Text Die Erzählerin schreibt Alissa Walser, "Jede Begegnung mit ihm ist, wie ein Rendezvous mit einem aus seiner Zeit geschlagenen Felsbrocken." Die Autorin beschreibt ein Erzählen zu Seiten ihrer komatösen Freundin und kommentiert, dass im Jahre 2002 sie das Projekt abbrach, da Pedro Almodóvar soeben Hable con ella in die Kinos gebracht hatte, worin umfassend das Thema bearbeitet worden sei.

Hansjörg Schertenleib liefert das Porträt von Alfred. Es steckt viel Zeit in den Zeilen, plastisch, lebendig. Dennoch ist es weniger der Text, der haften bleibt als vielmehr das Verhältnis des Autors zu ihm:

Aus Alfred wurde Willem, die Geschichte spielte nicht länger in der Schweiz, sondern in Irland, mein Held kam nicht mehr aus Österreich, sondern aus Holland, seine Ehefrau war nicht gestorben, sie litt an Demenz – und er pflegte sie.

Alain Claude Sulzer im Kommentar zu Crash stellt fest:

Anders als künstliche Testpersonen lassen sich die Überreste eines unvollendeten Romans nicht so schnell entsorgen. Sie geistern immer noch in meinem Kopf herum. Indes ich mich geschlagen gebe, hoffen die amputierten Hauptpersonen insgeheim wohl immer noch auf ihre Auferstehung. Ich kann ihnen die Hoffnung nicht rauben, auch wenn ich selbst keine mehr hege.

Ein nichtaufgeführtes Stück existiert von Judith Kuckart, mit Angela Merkel und Elizabeth I, Queensize XXL, rekonstruiert und "nie auf die Bühne gekommen", frech, ein bisschen zu sehr verwortet. Zsuzsanna Gahse erläutert in ihrem Text den Plan eines Stückes, das in keiner Form außerhalb existiert hat, garniert mit einer ziemlich witzigen Anekdote um Radiowellen empfangene Zähne, die die Dialoglängenproben des Aufnahmegeräts unaufgefordert torpediert haben.

Peter Stamms eigene Leni Thill Geschichte um eine "komplizierte" Schwangerschaftsvergiftung passt absolut perfekt, sich selbst genial einkuratiert kann man sagen, und bringt die Verwebung jener Schöpfung mit den priesterlichen Wächtern ihrer spirituellen Dimension in Diskussion. Der am besten ausgearbeitete Text dieses Hefts.

Den Schluss macht Bettina Spoerri, die ihren wiederauftauchenden Figuren Samira und Sabine wiederbegegnet, die als kommunizierende Röhren mittlerweile mehrfach ihre (literarische) Welt gewechselt haben. Auch hier ist das Verhältnis, in diesem Fall der beiden Prosae Spoerris, Kommentar und Action, ziemlich interessant in ihrer Unterschiedlichkeit.

Das redaktionelle Konzept der Akzente Die Ungeborenen ist gut und es geht auf.

Peter Stamm (Hg.)
Akzente 2 / 2019 Die Ungeborenen
Hanser Verlage
2019 · 82 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26328-4

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