Ein Buch der Unruhe
Dies ist kein Buch über Buenos Aires.
So wurde es mir vorgestellt, als Buch über Buenos Aires, aber Vorstellungen sind ja meistens Täuschungen, vorsätzlich oder nicht, Selbsttäuschungen oder nicht. Nein, es ist kein Buch über Buenos Aires, sondern eines über verschiedene Orte in Argentinien, besonders über einen, Amaicha del Valle in der Provinz Tucumán, mehr als tausend Kilometer von der Stadt Buenos Aires entfernt. Es ist auch ein Buch über einen Ort, den es nicht gibt, Santa María, ein Ort, der mit Amaicha del Valle identisch sein könnte, oder auch nicht… Nein, sicher nicht, denn Santa María ist ein Ort der Literatur, der Fiktion, und solche Orte kommen in der Wirklichkeit nicht vor, sie haben dort nicht einmal den Schein einer Entsprechung.
Die Orte, die die Autorin Petra Nagenkögel aufsucht, sind dort, nicht hier, wahrscheinlich unerreichbar. Glaubt man, dort zu sein, ist der Ort, nach dem man sucht, schon woanders. Diese Frau ist in der Tat eine „besessene Geographin“, wie Juan Carlos Onetti den Typus nennt, der solche namenlos-undefinierbare Orte wie Santa María Este (eine Art Zusatz- oder vielleicht Ersatz-Santa-María) im Visier hat, um seine Vergangenheit abzuschütteln. Auch das könnte für die Autorin gelten, oder auch nicht, oder eben deshalb, weil sie sich in gewissen Momenten unwillkürlich an ihre Kindheit erinnert, zum Beispiel, als sie an einem Ort überfallen wird, den sie ganz genau lokalisiert, in La Boca, Avenida Necochea, Buenos Aires Sur. (Vuelvo al sur…) Dann erst recht: die Vergangenheit loswerden.
Onetti ist kein argentinischer Autor, sondern ein uruguayischer, also ein rioplatensischer: kommt doch aufs selbe hinaus. Santa María wird er sich am einen oder am anderen, an beiden Ufern des Flusses ausgedacht haben. Nicht in den Anden, damit hatte er nichts am Hut. Santa María ist der Unort schlechthin, insofern mußte es für die besessene Geographin naheliegen, daß sie gerade nach ihm suchte, oder anders gesagt: Diese Suche ist die Potenzierung des Dort, um das es ihr geht. Etwas davon hat sie in Amaicha del Valle gefunden, mag sein. Oder an nichtigen Orten der Provinz Buenos Aires, oder in den staubigen, unsicheren Vororten der großen, ausfransenden, sich in die endlose Ebene fressenden Stadt, die seit ewigen Zeiten zu verkommen scheinen. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Dazwischen.
Den Angriff auf die unbedarfte Geographin in La Boca habe ich buchstäblich kommen sehen. Geh nicht dahin, habe ich ihr schweigend zugerufen. Vielleicht hat sie den Angriff ja herausgefordert, sie wollte das so. Um darüber schreiben zu können? Man muß nicht erleben, was man schreibt, das weiß sie und könnte sogar eine Lehre des Buchs sein. Die Menschen in den Elendsvierteln und an ihren Rändern sind nicht freundlich und hilfsbereit, sie sind so verkommen, so zugedröhnt wie der Ort, der ihnen zukommt (denn niemand, nirgendwo, sucht sich seine Geburt aus). Eher schon freundlich sind sie auf dem Land, 1300 km von der großen Stadt entfernt, aber auch da, wer weiß. Man muß sich in Acht nehmen. Wir haben sechs Augen… Ob es früher wirklich besser war, wie der Taxifahrer meint, Jorge heißt er? Schon möglich.
Italo Calvino nennt einmal in seinem Lob der Leichtigkeit (als Vorschlag für das nächste Jahrtausend, in dem wir jetzt sind) abstrakte Beschreibungen, wie man sie, sagt er, bei Henry James findet, als Beispiel dafür, für die Leichtigkeit der Literatur, vermutlich in dem Sinn, daß die Sätze dann die Schwere des Konkreten zurücklassen, tief unter sich wie ein Vogel, der sich über die weite Stadt erhebt. Zurücklassen und immer noch eine Ahnung vermitteln, wie von ferner Vergangenheit und Zukunft. So ging es mir auch beim Lesen des Sehnsuchtsbuchs der besessenen Geographin. Es vermittelte mir Bilder, Erinnerungs- und Vorstellungsbilder, durch die Abwesenheit der Stadt, die trotzdem, wie sie sagt, pulsiert, gleichsam nebenher lebt, auf den großen, fernen Avenidas, im Bajo, am Paseo Colón. Im Dezember/Januar ist Buenos Aires fast ausgestorben, wer es sich leisten kann, ist auf Urlaub unten an der Küste, in Mar del Plata, oder auch oben, in Uruguay, Punta del Este, wo auch immer, im grünen Bariloche vielleicht, im wüstenhaften Tucumán eher nicht. Warum sitzt die obsessive Geographin dort, genau dort, an der tausendspurigen Avenida 9 de Julio, wo nun wirklich kein Mensch spazieren geht außer ein paar Verrückten, die niemals, nirgendwo fehlen? Warum? Damit du was zu fragen hast, sagte man uns in unserer Kindheit.
Es ist tatsächlich die Geographie einer abwesenden Stadt, die sich im Buch abzeichnet, blaß, filigran, fast unsichtbar, im buchstäblichen Widerspruch zur klischeehaften Vorstellung vom „prallen Leben“. Nicht einmal Borges kommt vor, Kunststück in einem Buch über Buenos Aires (das dieses nicht ist): Borges, der Erfinder der konzeptuellen Literatur, die dem ganzen magisch-realistischen Getue den Rücken kehrte. Fast gar nicht kommen vor die Calle Corrientes, die Callao, die Kreuzung dort und der Abgang zur U-Bahn, mit den Buchhandlungen, Kinos, Theatern, Restaurants und Cafés, in denen die Dichter dichteten, diskutierten, Geschäfte machten, nicht die Kälte wird spürbar, der Gasgeruch, Patagonien, es ist immerfort Weihnachten, Hitze, wenn nicht gerade Platzregen. Nicht der Schlachthof, El matadero, die reale und metaphorische, fortgesetzte Grausamkeit, Esteban Echeverrías Gründungstext argentinischer Fiktion, statt dessen eine rhetorisch wallende, fast phantastische Beschreibung der Schlachtungen in Mataderos und gleich darauf, als wär’s eh dasselbe, der Folklore und des wuseligen Straßenhandels, jener inszenierten Phänomene, die alles sittsam verdecken. Dafür Charles Darwin, der hier eigentlich nichts zu suchen hat. Eben deshalb.
Wir sind hier, wo wir nicht sein können, und sind überall, sind in unserer Vorstellung. Dahin entführen uns die beiden letzten Passagen des Buchs, auf den Flohmarkt an der Plaza Dorrego, der überall sein könnte, und in die U-Bahn, die überall fährt, die Erde knapp unter ihrer Haut durchwandernd, immer weiter, das ist das endlose Ende, wie in dem Film, Moebius, der in der U-Bahn von Buenos Aires (oder sonstwo) spielt (aber es sind die blauen Waggons mit den verschmierten Fensterscheiben), eine wiederholte Schleife nach dort. „Im Anschauen der Dinge verlieren sie ihre Eigentlichkeit, und wir treten ein in eine geheime Intimität.“ Ein Satz so wahr wie abstrakt. Jedenfalls gilt er für Dinge, die ein Leben haben können und wirklich gehabt haben; nicht für die industriellen Billigprodukte aus China, deren Anwesenheit die Autorin hin und wieder registriert, wozu? Die Dinge auf dem Flohmarkt reden von ihrer Vergangenheit und lassen den Betrachter daran teilnehmen, beziehen ihn ein. Sie kommen aus Europa, sagt die Geographin, nicht aus China, aber eigentlich ist das egal, gewiß kommen manche dieser alten Dinge von irgendeiner Estanzia in der Weite der Provinz, aus den Händen eines längst verstorbenen Oligarchen oder Gauchos. Der Flohmarkt öffnet der flanierenden Geographin einen vertraulichen Raum, in den sie sich kraft Phantasie begeben darf. Was sie mit den Augen betastet, sind ihre Obsessionen, denn so wird immer noch flaniert, obwohl es – auch eine Wahrheit des Buchs – solch beschauliche Art der Fortbewegung nicht mehr geben kann.
Sehnsucht nach Dingen, nach Vergangenheit, nach Fortwirken, nach dem Immer-Noch. Und Sehnsucht nach Menschen, die die Dinge verlebt haben, denn diese sind nichts ohne ihre Bestimmung, ihren (möglichst sorgsamen) Gebrauch. Sehnsucht nach den Menschen der Gegenwart am unterirdischen Unort, nach Nähe, Berührung durch Namenlose, durch die Anonymität, die trotzdem ahnbar macht: Körper, Körperlichkeit. Die Geographin der Unruhe, vielleicht muß sie weiblich sein, zweifellos muß sie mutig sein, sich verlieren wollen und können, selbst die Auslöschung riskieren in einer zudringlichen Welt, aber auch: sich vom Augenblick überkommen lassen, hier und jetzt, also dort und gleich, entregarse, wie es der Tango verlangt, Hingabe (an die Dinge, an dich); der Tango, der in diesem Buch seltsam abwesend ist, ab und zu einen Liedfetzen zeigend, mehr nicht, keine Erklärungen, abwesend und allgegenwärtig, ja. Eine verpönte Tugend in moralischen, pseudomoralischen Zeiten, nicht verboten wie in den traurigen Jahren, als Jorges Eltern heimlich in der Küche tanzten, aber verpönt, und doch auch gesucht, denn der Tango hat sich seitdem über die Erdkugel ausgebreitet, Buenos Aires ist ein weltweit wirkender Magnet.
Und die Kunst der unruhigen Geographin besteht darin, das alles im Beinahe-Ungesagten zu lassen, es anzudeuten und zu beschwören und für den Leser, der zu lesen versteht, wachzurufen, selbst in der Rhetorik, der Gemessenheit der Sätze. Dort schwelt, was man notdürftig mit Gefühlswörtern benennt beim Versuch zu sagen, was ein Buch ausmacht: die Sehnsucht nach dem Unbestimmten, der Genuß des bloßen Daseins, die Trauer der Vergeblichkeit.
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben