Kein Ort. Nirgends. Revisited
Lass erstmal alles hinter dir. So lautet in einem beachtlichen Teil der Romanliteratur der Appell an die Hauptfigur, aus der was werden soll. Tschüss, langweiliges Provinzkaff, verkrachte Familie, Leerlauf und Ereignislosigkeit. Heimkehr ist wieder erlaubt, sobald das Gewöhnliche fremd, komplex und damit interessant geworden ist. Und der großstädtischen Desillusionierung sei Dank: alles Raue und Traurige von damals ergibt vielleicht doch noch Sinn nach Vorschrift. Ein Abschied scheint die Voraussetzung für Aufbruch, Entwicklung, Erzählung zu sein. Philipp Böhms Debütroman „Schellenmann“ kommt dieser Forderung auf eigentümliche Weise nicht nach. Und deshalb gelingt dem Text, die fast schon Konvention gewordene Aussichtlosigkeit literarisch dargestellter Provinz in eine Ausweglosigkeit zu verwandeln, die viel mehr über den Zusammenhang von frustrierendem Arbeitsalltag, unfreiwilliger Gemeinschaft, andauernder Angst und allgemeiner Tatenlosigkeit zu denken gibt, als die hunderttausendste Dorf- und Herkunftsschelte in bewährter Tradition der inzwischen gern gesehenen Nestbeschmutzung.
Sein Protagonist Jakob ist ein Junge ohne besondere Eigenschaften, der gerade deshalb die Kleinstadt, in der er lebt, bis ins Innerste reflektiert. Entlang kurzer Episoden, die oft aus Belanglosigkeiten dichte Szenen machen, folgt die Erzählung zwar stets Jakob, springt jedoch chronologisch hin und her und täuscht keinen Bildungsromanfortschritt vor. Jakob lebt als Zugezogener seit einigen Jahren an einem namenlosen Ort. Er kennt also weder alles und jeden von klein auf, noch ist es für ihn neu und unbekannt. Er hat einen Freund, Hartmann, der introvertiert wirkt, sich aber mal für ihn schlägt, der wenig spricht, aber gern absurdes Internet-Wissen wiedergibt. Etwa, dass Schweine die Sonne nicht sehen können.
Gemeinsam fahren sie in Hartmanns Auto zur Arbeit, hören Queens „Don’t stop me now!“ — als ironische Durchhalteparole oder trotzigen Wunsch? — auf dem Weg in die Produktion, in die Fabrik. Was dort hergestellt wird, weiß keiner so recht zu sagen. Wozu das dient sowieso nicht. Es ist eine Art Papiermüll. Wie das alles funktioniert, weiß nur einer, der getriezt wird. Dem Vorgesetzten ist wichtig, dass alle wissen, dass „man es mit ihm nicht machen kann“ und der Chef versucht mit einem in der Belegschaft berüchtigten „Hundeblick“, den Arbeitern Nachtschichten aufzuschwatzen. Was die Kollegen eint, ist andauernd zu beteuern, dass hier keiner bleibt. Die Fabrikarbeit in der Kleinstadt ist nur eine Station, ein Zwischen-Stopp, bevor es richtig losgeht, mit dem eigenen Laden, dem eigenen Restaurant, dem Leben.
Doch da draußen, wartet niemand auf sie. Die Fremde droht damit das bisschen Rang und Namen für ungültig zu erklären. Und so verwandelt sich das Leben, der entbehrungsreiche Arbeitsalltag und die vom Vereinsleben festgelegten Feste zu einem Tagtraum. Es scheint, als ob keiner sich selbst wahrhaben kann. Den Ausgleich zum ziellosen Zugrundeschuften bieten Suff, Night-Club, etwas Gewalt untereinander — und höhnische Kommentare: Man weiß alles besser, aber doch nichts anderes mit sich anzufangen. „Niemand liest die Gewerkschaftszeitung.“ Als Einziger wagt Hartmann den Ausbruch: Eines Tages fährt er weg statt zur Arbeit. Wir wissen nicht wo er war und was er erlebt hat. Irgendwas hat jedenfalls nicht geklappt. Ein Wunsch hat sich nicht erfüllt. Nach seiner schnellen Rückkehr will er nichts berichten. Die Welt bleibt klein. Hartmann entzieht sich Jakob und der geschwätzigen Schweigegemeinschaft vor Ort immer mehr und geht in den Schrebergarten. Die Räume des Romans, die wir kennenlernen, bleiben abstrakt. Dadurch wirkt nie etwas betulich oder „eigentlich ganz nett“. Einige Sonderlinge machen den kleinen Kosmos greifbarer, bilden aber kein Sammelsurium von Kuriositäten: Da gibt es etwa den Schlosser, einen Militärfanatiker, der „ein bisschen ein Nazi ist“. Später gewinnt er Jakobs erste Liebe für sich: eine Mitschülerin, deren Schaf stirbt und die Jakob in der Schule den Tod wünscht. Noch später offenbart Schlosser Jakob sein Geheimnis, dass er, der Waffen-Narr und Paintball-Spieler, es bei der Bundeswehr nicht ausgehalten hat. Eine schrullige Opernsängerin, die eher schreiend als singend durch die Straßen zieht, lädt Jakob zum Lasagne-Essen ein, wobei er, der stille, unscheinbare Angepasste zum ersten Mal explodiert und sie grundlos zur Sau macht. Ein zweites Mal wird folgen, mit heftigeren Konsequenzen. Von Anfang an liegt eine bedrohliche Stimmung über dem Geschehen, denn es steht im Zeichen einer Umwelt-Katastrophe, die sich im komischen Bild von Eichhörnchen ankündigt, die tot von den Bäumen fallen. Ein Sommer will nicht enden. Während alle weiter ihrem Alltag nachgehen, steigen die Temperaturen. Alle schwitzen, werden aggressiver, aber keiner kann oder will benennen, dass hier etwas vor sich geht, das den erprobten Lauf der Dinge für die Bewohner unterbrechen könnte. Spätestens mit dem titelgebenden „Schellenmann“ kommt der Realismus des Romans ins Wanken. Er ist ein Unbekannter in Karnevalskostüm, der Jakob immer wieder nachts, wenn er allein ist, heimsucht. Man kann sich nicht darüber im Klaren sein, ob er eine Halluzination ist oder ein fleischgewordenes fantastisches Element. Feststeht nur, dass Jakob ihm durch keinen Ortswechsel entfliehen kann — geschlossene Augen und zugehaltene Ohren nicht bedeuten, dass etwas weggeht, was man nicht wahrhaben will.
Gerade durch diese Absonderlichkeiten werden die Hast und Ignoranz deutlich, die das Leben in der Provinz bestimmen. Die ausgedachte Zukunft nach der Arbeit entlarvt sich als bloße Projektion. Hartmanns Reise, sein Schweigen zwingt zur Einsicht, dass nirgendwo ein Paradies wartet. Und Jakobs Wunsch, in der Kleinstadt zu bleiben, stellt insgeheim die Frage, warum es nicht auch hier schön sein sollte.
Wir lesen den stummen Zwang, getragen vom Wunsch, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren, die sich selbst nicht ausstehen kann, während sich vielleicht gerade abzeichnet, dass ein Zusammenbruch ohne Aufbruch bevorsteht. Vermittelt durch eine Sprache, die mal langsam tastet, mal rabiate Bilder findet, sich immer wieder aufbäumt gegen den Verschleiß dessen, was sie darstellt, auf Distanz bleibt, ohne abzurücken, an der spürbar wird, dass es um Verhältnisse geht, die gar nicht beschrieben werden wollen. Aus all dem entwickelt sich eine intensive Lektüre mit hoher Spannung, die immer wieder aufstört und anders auf das vermeintlich Altbekannte blicken lässt.
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