Theoretisch gut kalkulierbar
Als die freundliche Mitarbeiterin an der Schleuse zu einem großen Technologiekonzern dem namenlosen Ich-Erzähler mitteilt „Auch ich kann nicht anders, als der Datenmaske zu folgen“, klingt das zunächst noch ziemlich harmlos. Wir alle kennen inzwischen solche Sätze, akzeptieren sie mit einem Schulterzucken und warten darauf, dass sich die Angelegenheit von selbst bereinigt oder aber sich in irgendeiner Instanz doch noch ein menschlicher Vorgesetzter einschalten und uns aus der Bredouille helfen wird. An sich scheint das Problem, mit dem sich der Protagonist zu Beginn von Philipp Schönthalers Roman „Der Weg aller Wellen“ konfrontiert sieht, kaum mehr als eine Lappalie zu sein: Der Ads & Sales-Mitarbeiter einer Tech-Firma, die nur der „Ring“ genannt wird und damit wohl nicht zufällig an Dave Eggers‘ „The Circle“ erinnert, wird am Eingang zum Firmen-Campus aufgehalten. Die Handvenenerkennung schlug fehl – was zwar ungewöhnlich ist, bei einer False-Rejection-Rate von nur 0,01 Prozent (wie einer seiner Schlaumeier-Kollegen sofort anmerkt), aber eben doch mal vorkommen kann. Zugleich jedoch verleiht Schönthaler dem vermeintlichen Glitch im System eine beinahe metaphysisches Qualität, die über ein rein technisches Versagen hinausweist: Von seiner plötzlich randständigen Position aus beobachtet der Ich-Erzähler das reibungslose Hineingleiten seiner Kolleg_innen ins Innere des Rings, „wie jeder seinen abwärtsgekehrten Handteller in identischer Manier präsentierte“, „ein wenig wie Gläubige beim Empfangen der Hostie“.
Der sektenhafte Charakter des Unternehmens, die quasi-religiösen Heilsversprechen seiner im Verborgenen bleibenden technologischen Innovationen deuten sich hier bereits an. Auch wenn Schönthaler selten konkrete Orte benennt, spielt sein Roman ziemlich unzweifelhaft im Silicon Valley. Verweise auf reale Verhältnisse gibt es zuhauf: Seien es Attacken wütender Bürger_innen auf Firmenshuttles, oder die Wohnungsnot in der Stadt, in der sich unschwer San Francisco erkennen lässt.
Doch da Philipp Schönthaler eben nicht David Eggers ist und es vermutlich auch nicht auf einen smooth verfilmbaren Weltbeststeller abgesehen hat, benutzt er die mahnende Überzeichnung der Gegenwart vielmehr als Hintergrundfolie, vor der sich ein wahrhaft kafkaeskes Psychogramm entfaltet. Ist der Erzähler „nur“ ein Kollateralschaden einer nicht einwandfrei funktionierenden Technologie? Oder stecken höhere Absichten hinter seinem Ausschluss, der sich nach und nach auch auf andere Bereiche ausweitet? Nicht nur der Zugang zu seinem Arbeitsplatz wird ihm verwehrt, auch den Firmenshuttle kann er nicht mehr benutzen, und schließlich schlägt auch noch die Authentifizierung an der Tür seines Apartments fehl – allerdings nur manchmal. Die Unberechenbarkeit der maschinellen Logik erinnert an die erratischen Belohnungssysteme sozialer Medien, seine obsessive Suche nach Mustern an die vergeblichen Strategien von Uber- oder Deliveroo-Fahrern, das algorithmisch gesteuerte Auftragsvergabesystem zu durchschauen, das letztendlich ihre berufliche Existenz bestimmt. In Schönthalers Zukunftsvision gibt es zwar einen menschlichen Chef, der für Hilfe oder wenigstens Erklärungen sorgen könnte, doch der bleibt flüchtig und ungreifbar: eine Silhouette am Fenster, eine Abwesenheitsnotiz, ein aus den Augenwinkeln erhaschter Schemen. Als Paranoia lässt sich die wachsende Verunsicherung des Protagonisten schwerlich abtun; zu (über)lebenswichtig ist der Zugang zu digitalen Services in unserem Alltagsleben mittlerweile geworden. Getrieben vom unterkühlten Duktus des Ich-Erzählers, entwickelt sich „Der Weg aller Wellen“ langsam aber sicher zu einer längst überfälligen Parabel des ultimativen Scheiterns an der Black Box selbstlernender Algorithmen.
Ausgestoßen aus dem geschützten Raum des „Rings“ und den zugehörigen Annehmlichkeiten (Shuttlebus, Gated Community, Lieferservice), nimmt der Protagonist erstmals bewusst die Lebensverhältnisse der Menschen wahr, die im Schatten von Tech-Utopia ihr prekäres Dasein fristen: Die unterbezahlten Service-Kräfte, die Zeltstädte der Working Homeless, die verseuchte Luft, die sie atmen. Zwar verliert sich die mathematische Präzision seiner Sprache auch jetzt nicht, doch unter dem Anspruch totaler Datafizierung lauert nun der Horror des Unberechenbaren – wie etwa im Blick eines ihm unbekannten Shuttlefahrers, der ihn nicht einfach durchwinkt: „Seine glasigen Augen glichen dem weißen Bereich einer Karte, für den keine robusten Daten verfügbar waren, um auch nur annähernd eine verlässliche Aussage zu treffen.“ Letztendlich bleibt der Protagonist Gefangener einer in sich geschlossenen (Selbst-)Wahrnehmung, aus der es weder synaptisch noch semantisch ein Entkommen gibt. Ob Naturschauspiele, andere Menschen, andere Tiere oder die eigenen Empfindungen, alles unterwirft er seinem unbedingten Quantifizierungswillen: „Die Farbintensität hatte sich einem Maximalwert angenähert“, heißt es über einen Sonnenuntergang, und über einen Schwarm Möwen: „Im frontalen Gegenlicht der Sonne verschwanden ihre Leiber, als würden sie von der Bildfläche weggeklickt, um kurz darauf an einer theoretisch gut kalkulierbaren Stelle wieder aufzutauchen.“ Im krassen Gegensatz zu dieser „theoretischen Kalkulierbarkeit“ steht die Unzulänglichkeit menschlicher Sinne: Hinter einer Scheibe in einem der oberen Stockwerk des Firmengebäudes meint er die Umrisse seines Chefs auszumachen, gibt aber gleich darauf zu, sich vermutlich getäuscht zu haben.
Selbst die völlige Abspaltung der eigenen Gefühlswelt verdichtet Schönthaler noch zu Sätzen von verstörender Klarheit: „Ich spürte nichts, als wären die Beweggründe der eigenen Empfindung auf der Kehrseite von Interfaces verborgen.“ Unter solch gnadenlosen Selbstanalysen, die rein gar nichts zutage fördern, verbirgt sich wohl der eigentliche Schrecken. Wollte man Vergleiche finden, fiele einem wohl als erstes die seltsam entpersonalisierte Softness in Leif Randts Prosa ein.
Einzig der dritte und letzte Teil des Buches wirkt vergleichsweise unausgegoren. Unvermittelt wechselt die Erzählperspektive, und wir werden hineingeworfen in eine Aussteiger-Kommune, die sich in der Wüste ein ausgedientes Rechenzentrum unter den Nagel gerissen hat. Der Namenlose aus den ersten beiden Romanteilen ist hier kaum mehr als ein flüchtige Figur, ein Durchreisender, der für eine Weile Teil der Community war und wieder verschwand. Ist „The Brain“ der Schreckens- und zugleich Sehnsuchtsort, an dem sich so etwas wie Widerstand formieren könnte, wie wir ihn aus zahlreichen Dystopien von „Brave New World“ bis „Matrix“ kennen? Schönthaler streut Zweifel, allein schon durch die Rhetorik des mythenumrankten Anführers, die auffällig an die Erneuerungsfantasien früher Internet-Gurus erinnert. Worauf der Autor gegen Ende hinaus will, bleibt etwas vage – dass „The Brain“ und „The Ring“ auf ein- und demselben Möbiusband existieren dürften, ist dagegen ziemlich klar. Der Namenlose wurde aus dem Bild retuschiert; wir bleiben gefangen im kybernetischen Feedbackloop.
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