Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Leuchten, Blühen, Darben, Duft

Zur 2/2017 Ausgabe des Poesiealbum neu
Hamburg

Pflanzen: Nahrung, Zierde, Naturelement, Inbild für Leben und Sterben. Um sie soll es in dieser Ausgabe des Poesiealbum-neu gehen.

Es beginnt mit der flüchtig wirkenden und doch Bestand bedingenden Tat einer Amsel, in dem Gedicht „Wahrheit“ des leider größtenteils vergessenen und sehr lesenswerten Dichters Wolfdietrich Schnurre (ich habe vor Jahren auf Babelsprech.org eine Rezension zu seinen Gedichten publiziert).

Aus beinahe nichts
sintert es sein festes Grün. Es kostet den Felsen und über-
wächst ihn mit hartem Fleisch.

In diesem, förmlich knackenden, Gedicht von Volker Braun ist vom Steinbrech-Kraut, das dieser Ausgabe seinen Titel gegeben hat, die Rede, das großartig in Szene gesetzt wird.

Nachdem man der rasenden Vermehrung von Giersch in Marlies Blauths gleichnamigen Gedicht zugesehen hat, macht Georg Maurer die Bäume zu Philosophen, akkuraten Weltgeistern mit Sinn für Verspieltheit, bevor Walter Neumann sie in seinem Gedicht, entlaubt, wieder auf den Boden zurückholt, in dem sie mit ihren Wurzeln stecken:

Euch wird nicht
Feuer erlösen,
nicht Rauch
euch zum Himmel tragen.

Ihr bleibt!
bei uns!
Ihr kostest
das Gift aus, das wir euch gelegt!

Eurem Schöpfer
begegnet ihr nie!

Noch dieser Verdammung die nüchterne Bilanz von Christoph Kuhn, dem Baum allein gehöre die Krone, das wirkt wie schon sehr oft gelesen. Matthias Groll wirft im nächsten Gedicht die Zeitlupe an und betrachtet eine weitere Version des Baums: den gefällten.

Leise öffne ich die Balkontür
und lasse einen Schwall
meiner Abendkassette ins Freie:
Johann Sebastian Bach,
Air aus der Suite Nr. 3 D-Dur.

Detlev Bocks Gedicht über das Trösten einer Birke mit Bach ist ein berührendes Kleinod. Birken sind ja schöne Bäume, finde ich, und das findet auch Britta Lübbers, die aber Bilder von russischen Steppen und Kriegsheimkehrern mit ihnen zusammen bringt.

Neige dich dem Leben zu
Und es wächst dir
das Herz

schreibt Ju Sobing. Muss man das einem Baum, einer Birke überhaupt sagen?

Jörg Kleemann definiert den Baum als Raumgreifenden ohne (Be)Greifen, Esther Ackermann nimmt sich die Zitterpappel, prüft sie auf Haut und Hoffnung, und Angelika Tonner hört die Bäume beten, märchenhaft geradezu.

Nun aber weg von den Bäumen, ins Feld, zu der herrlich vorbeisausenden, reichhaltigen Ode an das Gras von Irena Habalik, ein einziger Traum von Kraut und Halm, nichts als Kraut und Halm.

Von der mittlerweile bald vor 5 Jahren verstorbenen Dichterin Sarah Kirsch, einer Könnerin auf dem Gebiet der zart-bestimmten Naturbetrachtung, wurde das wunderbare Gedicht „Hundsveilchen Bitterklee“ in den Band aufgenommen. Christine Hausmann schreibt in ihrem Gedicht, bzgl. des Klatschmohns:

Büschel um Büschel
trug ich heim und schwieg –
des Lichtes und der Schönheit
halber.

Die Wolken summen für niemanden, nicht mal für das Gras, so hält es Julia Nakotte in ihrem kurzen, feingliedrigen Lebenslauf des Grases fest. Harald Kappel zoomt näher heran, betrachtet den Halm, steigert sich geradezu in ihn hinein, fulminant, aber auch etwas überzogen.

Ein schönes Gedicht über die Mahd, ihre Essenz, mit den gelungenen Anfangszeilen:

Blaue Blumen sind endlich
Weiß jedes Kind im Dorf
Wenn Sie das Korn holen

hat Franziska Beyer-Lallauret verfasst. Scharlachrote Notenköpfe auf schwarzen Stielen sind für Gudula Budke die roten Mohnblumen, als wäre ein Jubeln der Trompeten dabei.

Wenn man sich begießt, pflanzt man sich dann fort? Lutz Rathenows Pulsnitzer Elegien haben einen schmunzelnd-sympathischen Zug. Es folgen „Wohlriechender Wurz“ und „Hungerblümchen“ in den Gedichten von Katharina Düwel und Klaus Nührig und unterstreichen den empathisch-emphatischen Touch in der Welt der Pflanzennamen.

Aufgehört die Apfelblüten zu
zählen, der Wahnsinn kommt noch früh
genug, es darf auch Unordnung
geben

so beginnt das launisch-schöne Gedicht von Stefan Heyer, bevor ein Sonett aus dem frühen 19ten Jahrhundert dem Band zum ersten Mal einen ganz und gar wildwuchernd-romantischen Ton gibt. Und Jörg Seifert stellt fest:

wir ernten radieschen, kresse und dill
[…]
löwenzahn immerhin haben wir
mehr als wir bräuchten

Claudia Oblok sucht nach Jacques Callots Baum mit den Gehängten (könnte es der Baum des Paradieses sein? Von diesen Früchten sollt ihr nicht essen?) Ralph Grüneberger verweilt dagegen im berühmten Garten bei Dumbarton Oaks, nimmt das Flirrende, die Fülle und Widersinnige in sich auf. Ein großartiges Gedicht über Lebendigkeit und den Schatten, den sie wirft.

Von keiner Farbe wissen die Augen sonst
Nuancen auseinanderzuhalten, wie
von Grün, das deine raue Schale
schirmt, ein Klaviertuch von Samt und Seide.

Behutsam und doch nachdrücklich rühmt Michael Spyra geradezu zärtlich die Gärten von Sao Miguel. Auch Monika Kühns Gedicht über die Tulpe, einst wertvoll wie Gold, hat eine ähnliche, zurückhaltende Hymne in sich. Für Cornelia Eichner ist der Garten Eden in der Kindheit noch überall zu finden und ihr Gedicht endet:

sag mir, wann die vertreibung beginnt
bitte niemals laut

Auch Goethe hat beim Thema Pflanzen natürlich ein Wörtchen mitzureden und ist mit dem Gedicht Ginkgo Bilboa vertreten. Bei Stefanie Kemper wird das Braunwerden der Blätter, ihr Abfallen, als kleine Katastrophe wahrgenommen, wie herabstürzende Steine. Steffen Marciniak steuert dafür ein wunderbar sanftes, etwas aufgeplustertes Gedicht über Krokusse bei, römisch-griechisch angehaucht.

Strelitzia reginae, die kühle Glashauskönigin laut Susanne Birgit Müller. Franziska Röchter klagt vom „pflanzenleid“:

irgendetwas muss man ja essen
mir wärs aber lieber es wären nicht pflanzen
das hinterhältige säfteerpressen
das rabiate kerne ausstanzen
[…]
genuss ganz gewaltfrei kann man vergessen.

Dieter Höss schickt Matthias Claudius in Rente, oder besser die ersten Zeilen seines Abendlieds. Und, ach, wie schön ist es, mal wieder einem Gedicht von Joachim Ringelnatz über den Weg zu laufen:

Ein Sauerampfer auf dem Damm
Stand zwischen Bahngeleisen,
Machte vor jedem D-Zug stramm,
Sah viele Menschen reisen

Wo sie bei Ringelnatz nur so purzeln, dauert es bei Steffen Thiemann etwas länger mit der Pointe seines langen Gedichts „von meinen pflanzen die liebste“. Sehr schön besingt Frederike Frei die Schwanenblume, ihres Zeichens Blume des Jahres 2014. Eines der schönsten Gedichte im Band kommt dann von Franziska Arnold, über die „forellenbegonie“.

Gerd Kehrer zieht ein großes Panorama auf, mit alten Eichen, einem Nachtigallenweg und siebzig Vogelarten. Ein reiches Gedicht! Christine Kappe und Wiebke Drucker geben dem Thema dann in ihren Gedichten zum ersten Mal einen ironisch-kritischen Ton.

dornen brechen
den tau
in den tag
ein rest der nacht
nagt noch

Ob die gleichnamige Band damit einverstanden wäre? „Rosenstolz“ heißt das Gedicht von Dirk-Uwe Becker, das zart beginnt und sich etwas zu sehr ins Martialische steigert. Erinnert also doch an manchen Rosenstolz-Hit. Sehr schön das Gedicht von Hans Dietrich Bruhn „Die Politik der Wasserrosen“:

abends setzen sie den Sonnen-
untergang fort
und färben die Nacht

Bei Andreas Reimann geht es um die Früchte der Pflanzen, bombastisch und fein. Dem vom Schneetreiben noch unberührten Acker und der schweren Gerste sind die nächsten beiden Gedichte von Anne Müllerschön und Ingrid Miller gewidmet.

Laub leuchtet im Grau
Blätter so groß wie Hände
grüßend aus Fernost
am Zaun aufgeschichtete Äste
als Winterquartier für Igel

so beginnt das besinnliche Requiem von Erica Natale, bevor Tobias Hainer ein paar schöne Verse über die Tollkirsche gelingen.

Pupillentanz
im Dunkelmond

Auch Eckhard Erxleben wählt Kirschen, die Schattenmorellen, umspielt mit der Zunge seiner Verse jenen saftigen Moment des Beißens und Kernausspuckens. Auch der Ginster darf natürlich nicht fehlen! Birgit Littmann setzt ihm ein Denkmal am Bahndamm, wo er jedes Jahr trotz Kargheit blüht.

schiefe Stämme nach bösen Wettern gebeugt
gebeult von riesigen Knoten höhlend gespalten
die knorrigen Rindenreste fruchtbeschwerter
Äste unter der Obstlast brechen von klebrigen
Saftwülsten an den Bruchstellen umheilt

Judith-Katja Raabs Gedicht ist eine verschlungene, gut komponierte Fülle, in der strotzende Lebendigkeit und strotzender Verfall sich wenig unterscheiden. Es folgt zweimal Holunder, einmal neigend bei Raoul Eisele, einmal blühend bei Nora Dubach.

zelebrieren sich verbeugungen aus
hauchzartem porzellan

die Magnolien bei Johanna Hansen. Christine Graf gelingt ein zartes Bild von der Mandelblüte, oder besser: ein sprachliches Bild zu dem gemalten Bild von Vincent van Gogh.

Die schwere Süße ihres Duftes
ertrag ich nur
im flüchtigen Hauch
des Frühlingswindes.

Gemeint ist bei Ulrich Schröder die Glyzine aus der Familie der Schmetterlingsblütler. Sein Gedicht über sie ist eines der schönsten in diesem Poesiealbum, schmerzlich schön.

Jörg Hirschs „Wiesweg“ besteht aus lauter lateinischen Pflanzennamen, Olivér Meiser rühmt eine weitere Pflanze mit eigenwillig-schönem Namen, die Sumpfdotterblume, wieder so ein Name, der aus seinem lebendigen Klang schon fast hervorquillt.

Und der arme Lemming gilt immer noch als Selbstmordtier, auch im Märzenbecher-Gedicht von Andrea Lydia Stenzel. Und bei Silke Berke: Jasmine.

Stehen verlockend
Die ganze Straße hinunter
Bis zur Ecke
Ein Gekose untereinander
Sie bieten sich an; so erregend
Senden betörende Süße
Aus offen gespreizten Blüten

Kamelien nicht zu vergessen! Katrin Bibiella rühmt weiß und rot als Inkarnat bzw. Blut in einem herrlichen Sonett, hochpoetisch, das endet mit den Zeilen:

Die Kelche flüstern wie gelöste Mieder
Und fleischlich weich das atmende Gefieder,
Wenn sie Libellen matt zu Boden fallen.

Pflanzen und Blumen können erotisch sein! Und auch militärisch, wie man an den Narzissen in Patricia Falkenbergs Gedichten erkennen kann.

Ein Heer grüner Lanzen reckt sich
Ins Licht. Zwiebelkrieger weisen den
Müden Winter in seine Schranken. Standhaft
In letzten Frostgefechten.

Es geht auch friedlicher, wie Eva Lübbe anschließend am Beispiel der Schneeglöckchen zeigt, die sich an das Weiß des Winters noch anschmiegen. Bei Salean A. Maiwald gehen wir dann zum Wagnis der Alraune über. Sujata Bhatt hat ein hinreißendes Gedicht über Krieg und Knoblauch verfasst. Und der Rosmarin bekommt auch sein feinsinniges Poem, geschrieben von Eva von der Dunk. Bei Ulrich Straeter heißt es:

Gelbes Meer von Raps
schwemmt über sanfte Hügel
[…]
alte Zeiten empfinden
die Autobahn rauscht

Thomas Böhme nennt den Wald einen Freund, einen launischen, aber einen guten; Ina Barbara Gille nennt die Anthurienblüte ein stilles Ungeheuer, beschreibt sie wie das größte Kuriosum. Carsten Stephan richtet seine Worte an die „Sansevieria trifasciata“:

Du solltest unsre Lebenspfade säumen,
In Ferienheimen und Betriebskantinen,
Von Aluminiumlöffelglanz beschienen,
Der Heimat in zentralgeheizten Räumen.

Der Gummibaum kommt bei Susanne Neuffer nicht so gut weg. Schöner gerät da der Schnappschuss des Usambaraveilchens von Gabriele Matthes oder das einfühlsame Salatherz-Gedicht von Jürgen Flenker. Eine Ode an die Brennnessel, endlich! Da hätte was gefehlt, wenn dergleichen nicht vorgekommen wäre, denn welche Pflanze prägte mehr die Kindheit, das Draußen-Spielen? Dank an Inge Buck.

Glücksbringer soll er sein,
auch Amors geheimer Helfer
beim Kuss unter seinem
verheißungsvollen Grün
in den zwölf Raunächten
zwischen den Jahren.

Na, wer kann dies Gewächs aus dem Gedicht von Renate Buddensiek erraten? Es ist der Mistelzweig, Zaubertrankzutat und beliebtes Anzeichen für den unvermeidlichen Kuss, archaischer und moderner Mythos in einem. Johanna Anderka besingt wiederum ein paar alte Linden, wie auch Walther von der Vogelweide.

Gegen Ende hin noch das Herbarium, in zwei fast schon possierlichen Gedichten von Wolfgang Stock und Alfred Schreiber. Auch bei André Schinkel sind die konservierten Pflanzen Thema, fasziniert vom toten Leben, dem lebendigen Toten.

in vielen Farben
am Rostgeländer empor
wie betäubt
vom Duft
taumeln Bienen
von Blüte zu Blüte

Und nochmal die Schmetterlingsblütler, die Wicken genauer, himmelhochhangelnd, und doch angelnd nach den fleißigen Insekten, von Gudrun Güth in Verse gepackt.

Noch ein Gedicht an das Schöllkraut von Mike Rother und eine Legende zur blauen Wegwarte von Gisela Rein. Schon Johannes Bobrowski dichtet an sie:

Wegwarte, mädchenschmale,
ich seh dich immer stehn,
wo mir die Wege alle
der Welt zuende gehen.

Dort kommt hell vor dem Walde
der Fluß die Felder her.
Dort warte an der Halde,
bis daß ich wiederkehr.

Noch Herbstgedichte von Hartmut Löscher, Markus Reichhart, Heidi Bergmann. Eine Ode an die Tanne, die „Harz heulende Stammesschwester“ von Christina Schößler. Die wilde Amaryllis, eine „Pflanze, die den Kosmos in sich trägt“, sehr schön mit Worten gemalt von Helga Rahn. Und am Ende noch ein Gedicht auf die vergessenen Wiesen von Evelyn von Wietersheim:

Und Bussardschreie und Horste kennen
Und Biberdämme besehn
Und einzeln die Bäume beim Namen nennen
Und ihre Sprache verstehn.

Und Röcke am Dornengestrüpp zerreißen
Und Haut zerkratzen dabei –
In ungewaschene Äpfel beißen
Vorbei.

Fazit: Ein überschäumender Band, dem es in seiner Breite gelingt, einem die Reichhaltigkeit, die visuelle Pracht und Einzigartigkeit der Pflanzenwelt und ihrer Verbindungen zu unserem Leben vor Augen zu führen, ja sie geradezu hinein zu tunken. Um die Schönheit nicht zu verpassen, die uns täglich umgibt, uns wieder und weiterhin daran zu erinnern, dass Pflanzen uns umgeben, immer bei uns sind, empfehle ich die Lektüre unbedingt!

Poesiealbum neu / Steinbrech. Gedichte zu Pflanzen
Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V.
2017 · 7,80 Euro

Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge