Am Wegesrand
Bei den alten Japanern war es üblich, dass Künstler oder auch Handwerker, die ein perfektes Stück geschaffen hatten, eine Ecke davon abschlagen mussten. Denn Perfektion ist nichts für Menschen. Sie ist den Göttern vorbehalten.
Das bedeutet: Ein perfektes Gedicht ist ein Gedicht, das nicht perfekt ist.
Annähernd perfekt – und damit perfekt – sind die Gedichte von Andreas Altmann schon lange. Der Berliner Lyriker, 1963 in Hainichen in Sachsen geboren und seit Jahren beim Poetenladen sehr gut aufgehoben, schreibt Texte, denen alles Akademisch-Selbstdarstellerische wohltuend abgeht. Und von denen man jetzt in der Lyrikreihe „Poesiealbum“ einen umfassenden Überblick bekommen kann.
Altmanns Gedichte orientieren sich in der Wahrnehmung an dem, was man sieht – und an dem, was man hinter den Stirnen und den Augen und den Hauswänden und den Hecken spürt. Und – ganz wichtig bei Altmann – was unter und im Schnee friert. Oder auch nicht:
das eisfell glitzert auf den wiesen …
(aus: das eisfell)
Fell ist ja warm. Und selbst dann, wenn man beim Lesen mitfrieren möchte, wärmt einen der zugewandte Blick des Autors:
… still atmen die häuser / im schlaf. schneeblind sind die tieferliegenden / fenster. …
(aus: dorf im schnee)
Die Winzigkeiten, in denen sich Altmanns Meisterschaft mehr versteckt als offenbart, kann man sehr gut anhand des Gedichts „sommerabend“ verdeutlichen. In den Zeilen zwei, drei und vier lesen wir:
rehe fliehen über den stoppelbrand. / seine farben schickt der trockene sand / ins brennende grün der bäume. …
Ja, das ist schön, brennendes Grün, diese kurz schraffierte Widersprüchlichkeit. Noch schöner ist der wie zufällig hingerutschte Reim. Und jedes Gesetz über die Komposition von Harmonien und Disharmonien und Spannung und Textbögen etc. pp. würde sagen: noch einer. Irgendwo gegen Ende noch ein Reim. Bitte.
Es kommt aber keiner. Jedenfalls kein sofort sichtbarer. Es kommt sogar das Gegenteil, es kommt eine Holperzeile –
von dichten blättern aufgehobene pfütze
– mit einem wunderbaren Bild (wie die Blätter die Pfütze erhalten und erheben), doch mit zu vielen Silben für den Rhythmus des restlichen Gedichts und mit zu vielen „n“ drin und zu vielen „e“. Aber: Die Zeile ist gut. Sie ist notwendig. Denn kurz zuvor, da ist er dann doch, der Reim. Völlig verborgen, mitten in der Zeile, und gar kein echter eigener Reim, bloß ein Echo auf den vorherigen, man liest geradezu drüber hinweg, aber eine Ahnung bleibt hängen und holt ihn ins Bewusstsein:
… birken drehen sich in ihren kleidern / am wegesrand. …
Brand, Sand, Rand. Deswegen die Holperzeile. Sie ist die abgeschlagene Ecke. Der Wegesrand macht das Gedicht perfekt, und die Holperzeile macht es wieder unperfekt. Und damit perfekt.
Und bloß einmal unterstellt, Andreas Altmann hätte dies alles beim Schreiben gar nicht gemerkt, er hätte es gar nicht komponiert, sondern intuitiv gefasst – es wäre noch besser. Weil: Nicht beabsichtigt. Weil: Nicht mit dem Kopf gemacht. Weil: Gar nicht gemacht, sondern geschehen. Gedichte haben ja mit dem Verstand etwa so viel zu tun wie Thomas Mann mit Menschenfreundlichkeit.
Den „sommerabend“ finden wir (bislang) in keinem von den vielen schönen Büchern von Andreas Altmann. Sondern im „Poesiebalbum 324“. Die inzwischen sehr stattliche Reihe schmaler Hefte zu einzelnen Autoren hat eine lange Geschichte: In der DDR gab es die von Bernd Jentzsch initiierten Lyrikblättchen an jedem Kiosk für ein paar Groschen, jeden Monat, mit mehr und auch mal weniger regimetreuen Texten, von 1967 bis 1990. Und: Sie wurden gelesen! Massenhaft!
Tempi passati. Vorerst. Der Märkische Verlag Wilhelmshorst hat sich vor knapp zehn Jahren entschlossen, daran zu arbeiten, dass die vergangenen Zeiten wieder Gegenwart werden, was zu den Mühen der Ebene gehört, aber aller Anerkennung wert ist. Vor allem, weil der Verlag keine Wir-machen-alles-neu-und-besser-Haltung an den Tag gelegt, sondern mit Ausgabe Nummer 277 angefangen hat. Und erst mal Lyriker vorstellte, die in der „Republik des schlechten Geschmacks“ (Jonathan Franzen) aus politischen Gründen nicht gedruckt werden durften.
Das neue Poesiealbum versteht sich als Podium der Dichtung in Fortsetzungen, mit jährlich sechs Ausgaben, zusätzlich zu Neuauflagen alter Ausgaben und speziellen Sonder- und Themen- und Vorzugsheften, die Abonnenten vorbehalten sind. Und ein Abo rechnet sich. Das Einzelheft kostet fünf, die Jahresbestellung 24 Euro.
Man bekommt dafür solche Schätze wie den tiefgehenden Einblick in das bisherige Werk von Andreas Altmann, 46 Gedichte, klug zusammengestellt von Axel Helbig. Und als Extra das unveröffentlichte „sommerabend“.
Und als Extraextra die Grafiken von Jürgen Höritzsch, die so rätselhaft schön sind wie die Texte: Das große Bild in der Mitte des Heftes wirkt wie ein unscharfes Foto eines leicht baufälligen Bauernhauses im Winter. Schnee auf dem Dach, Schnee auf der Erde. Davor, auf einem Teich, sitzen vier Menschen in einem Ruderboot wie auf einer sommerlichen Kahntour.
Perfekt unperfekt.
Bestellung über den Buchhandel oder über Märkischer Verlag Wilhelmshorst (MVW), An der Aue 6, 14552 Wilhelmshorst. Telefon 033205/62211
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