Ich hab alles erlebt
Hoch gehandelt dieser Tage wird Ralf Rothmanns neuer Roman "Der Gott jenes Sommers", nachdem sich das 2015 erschienene und in nicht weniger als 25 Sprachen übersetzte "Im Frühling sterben" in kurzer Zeit zu seinem bisher erfolgreichsten Buch entwickelt hat. Obwohl die Weltkriegsthematik für Rothmann damit eigenem Bekunden zufolge eigentlich literarisch abgeschlossen war, hat er in einem Interview geschildert, wie die Begegnung mit einer Leserin, die offenbar in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs als 12-Jährige auf einem Hof in Schleswig-Holstein Rothmanns Vater kennengelernt hatte, ihn dazu anregte, eine weitere Kriegsgeschichte zu schreiben, diesmal aus der Sicht eines Mädchens: die ebenfalls 12 Jahre alte Luisa lebt mit ihrer kränklichen und eifersüchtigen Mutter und mit ihrer koketten älteren Schwester Sibylla auf einem Gut in der Nähe von Kiel, wo der äußerlich leichtlebige, aber depressive Vater ein Offizierskasino der Kriegsmarine betreibt. Das Gut gehört Luisas Schwager Vinzent, einem klassischen NS-"Goldfasan" und Kriegsgewinnler, der mit ihrer Halbschwester Gudrun verheiratet ist, aber längst auch eine Affäre mit Sibylla hat. Das Leben verläuft am Rande des mörderischen und entbehrungsreichen Kriegsgeschehens, die Protagonisten werden durch das Protektorat Vinzents relativ gut versorgt, nur gelegentliche Tieffliegerangriffe und sich häufende Einquartierungen von Flüchtenden aus dem Osten trüben die verhältnismäßige Erträglichkeit der Zustände. Luisa liebt Bücher und verschlingt literarisch alles, was ihr in die Finger gerät, von "Winnetou" über "Vom Winde verweht" bis hin zu Gedichten von Andreas Gryphius, was sie in gewisser Weise zu einer Einzelgängerin macht, die dennoch von den meisten auf dem Gut gemocht wird. Sie verguckt sich in Walter, einen jungen Melker, der mit einer anderen jungen Bediensteten des Hofes verlobt ist und noch in den letzten Kriegsmonaten eingezogen wird. In kleinen Episoden schildert Rothmann in szenischer Genauigkeit und mit einer relativ nüchternen Sprache Luisas tägliches Leben und Erleben, den Versuch, ein krankes Pferd mit dem Aspirin der Mutter zu kurieren und den erschütternden Begegnungen mit schwer verwundeten Soldaten im Lazarett des nahen Stifts. Er erzählt von dem linientreuen Lehrer, der Luisa für einen Aufsatz "Was ich nach dem Endsieg machen werde" wegen der Verwendung zahlreicher aus dem Französischen entlehnten Wörter eine sechs gibt und von der Exekution eines abgestürzten britischen Bomberbesatzungsmitglieds durch ihren Schwager. Auch die ständigen Konflikte mit der Mutter und ihren Schwestern thematisiert Rothmann und verwebt damit eine merkwürdige Mischung aus Schwer und Leicht miteinander, die lange keine wirkliche Stoßrichtung des Romans erkennen lässt: auf der einen Seite gibt es bedeutungsschwanger aufgeladene Attribute wie Zitate von zeitgenössischen Schlagertexten an "sprechenden" Stellen und einige doch recht einseitig überzeichnete Charaktere, die aus der Distanz der Jahrzehnte übertrieben holzschnittartig anmuten; dieser zuweilen etwas penetrant daherkommenden Attitüde, die allenfalls bei einem Jugendbuch noch ihre diskutable Berechtigung haben mag, stehen Passagen kontrastierend gegenüber, die aus einer alten Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg zu stammen scheinen und durch einen Schreibenden namens Bredelin Merxheim in historisierendem Tonfall vom Versuch berichten, eine Kapelle gegen alle technischen und kriegerischen Widerstände komplett auf einem Schiff über einen See zu transportieren. Ein irrwitziges und zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, das auch schließlich den zunächst etwas rätselhaften Titel des Buches enthüllt: während die Haupthandlung im Winter und dem beginnenden Frühjahr spielt, ist die barocke Vision offenbar in der Jahresmitte angesiedelt; wenn auch der Gott jenes Sommers dem Unternehmen letztlich nicht hold ist, so zählen schließlich die Unverzagtheit und die Reinheit und Lauterkeit der gottgefälligen Absicht mehr als das Ergebnis. In dem Anfang 1945 spielenden Erzählstrang verdreht sich diese Aussage mehr und mehr in ihr Gegenteil, denn unverzagt, rein und lauter ist am Schluss nichts mehr in Luisas Welt. Nicht etwa von heranrückenden Feindsoldaten, sondern vom eigenen Schwager Vinzent wird sie auf dessen rauschendem vierzigsten Geburtstagsfest vergewaltigt, erkrankt lebensgefährlich, ihre Schwester Sibylla verschwindet unter merkwürdigen Begleitumständen und wird wegen ihrer despektierlichen Äußerungen über den "Endsieg" und ihres freizügigen Verhaltens von einflußreichen Freunden Vinzents mutmaßlich zur Prostitution gezwungen, ihr Vater, dessen Alkoholmißbrauch, Selbsthass und Angst vor den Nazis immer deutlicher zutage treten, erhängt sich, und ihre Mutter reagiert darauf überaus gefühlskalt. Der aus dem Krieg zurückgekehrte Walter betrachtet sie nach wie vor als unmündiges Kind, eine Beziehung steht außerhalb jeder Vorstellung. Luisa will schließlich in das Kloster in der Nähe des Guts eintreten und antwortet auf die Frage der Oberin, ob so ein junges Mädchen nicht noch etwas sehen wolle von der Welt: "Ich hab alles erlebt."
Unter den Händen eines weniger begabten Schriftstellers, als Ralf Rothmann einer ist, hätte ein so gefährlich nahe am Kitsch balancierender Plot zu einem literarischen Totalschaden führen können. Dies ist glücklicherweise denn doch nicht der Fall: motivisch schlingt der Autor die beiden auf den ersten Blick so völlig unvereinbaren Handlungsstränge zusammen und entwirft in der Haupthandlung tatsächlich das über weite Strecken stimmige Bild eines pubertierenden Mädchens, das durch die Erlebnisse des Krieges für immer seelisch gezeichnet bleiben wird. Nur könnten die Lesenden auf ihren Satz "Ich hab alles erlebt" mit einem "Ich hab das alles schon woanders gehört" antworten; Rothmanns routinierte und sich nur selten, dann aber doch recht plakativ in den Vordergrund spielende Sprachbeherrschung kann leider nicht ganz darüber hinwegtäuschen, dass seine Geschichte mit zu vielen oft gelesenen Klischees jongliert, die der Schwere des Sujets letztlich unangemessen erscheinen. Hier soll kein humorloser Bierernst in Bezug auf Weltkriegserzählungen eingefordert werden, doch nicht wenige recht zotig geratene Dialoge wirken gesucht und stören den ansonsten von einem poetischem Realismus getragenen Ton erheblich. Die Vision des Bredelin Merxheim hingegen ist trotz der diegetisch eher schlichten Verknüpfung mit dem Geschehen von 1945 (die beiden Handlungen werden abwechselnd erzählt, wobei der barocken ein deutlich geringerer Anteil zukommt) vor allem aufgrund des feinfühlig adaptierten historisierenden Duktus' ein echter Lesegenuss.
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