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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Couchkompatible Schockwirkungen

Hamburg

Prosa vom Feinsten. Kühne Bilder. Dabei durchaus unkonventionell und en detail schockierend. Hier weiß jemand sehr genau, wie man im Kopf des Lesers Bilder erzeugt. Und was für welche! Acht aufregende Erzählungen für Leser, die gerne mal eben abtauchen wollen, in kurzweilige, abgeschlossene Einzelgeschichten, „was für zwischendurch“, in Spielfilmlänge lesbar. Diese Prosa ist präzise. Bildstark. Virtuos. Packend. Atmosphärisch dicht. Rothmann erzählt aus unterschiedlichsten Perspektiven virtuos und absolut glaubhaft. Und dennoch hinterlassen die Erzählungen einen mitunter bizarren Eindruck – nicht, weil sie an Grenzen gehen, sondern wie sie an Grenzen gehen. Diese Prosa ist nichts für ganz feine Gemüter. Da gibt es gleich in der zweiten Geschichte eine junge Erzählerin, von der wir erfahren, wie das Sperma des Keyboarders schmeckt. Immer wieder werden mit einer teils irritierenden Plastizität, die an überscharfen „HD“-Naturalismus grenzt, großartige und großartig verstörende Bilder entfacht, die nicht jedermanns Sache sind. Wie auch in manchen neueren Krimis wird bei Ralf Rothmann die Kamera ganz genau drauf gehalten. So entsteht ein „Ausstattungskino“ mit intensiven Bildern. Dabei schockiert fast jeder Text durch etwas anderes; und fast scheint es, als müsse man schon mit vorauseilendem Gehorsam der Langeweile der Leser Einhalt gebieten, denn nichts scheint heute schlimmer zu sein, als wenn ein Leser die Nase rümpft und womöglich eine Textstelle langweilig findet.

Also bietet man den Lesern das Innere einer Anatomie, in der Tradition Gottfried Benns hier auch „Morgue“ genannt, wo „frische“ Leichen aufbewahrt werden. Deren Aussehen wird quasi in hoher Auflösung geschildert. Nicht viele waren gestorben in der Nacht, es gab kaum etwas zu tun; zwei Betten standen in dem engen Gang, leicht verkantet, und ein eimerartiger Behälter mit einem verdorbenen Spenderherz. Man hatte die Laken so weit über die Gesichter der Toten gezogen, dass die Füße hervorschauten, und die Kärtchen mit den Personalien an den große Zehen pendelten in der Zugluft, als er die Stahltür aufschloss. So bietet man den Lesern eine Story um vier Halbwüchsige, zwei Jungs und zwei Mädels, die, um dort eine Orgie zu feiern, in eine Wohnung eindringen, die von der Mutter des Ich-Erzählers bereits an fremde Gäste vermietet worden ist. Dann blickte ich mich um. Obst auf dem Boden, Schalen und Kleider, und die beiden Schlafzimmer standen offen. Ihre Fenster gingen zum Wald hinaus, und in dem größeren, in sie einem Bett mit Baldachin, lagen Aischa und Lars. Sie hatten die Nachttischlampe gedimmt und waren unter die Decke gekrochen; ich konnte nur ihre Köpfe sehen, und wie sie sich küssten. Der Slip hing an der Klinke. / Doch Marlies trug sogar noch ihre Daunenjacke. Die Füße auf dem Messingtisch, einen angebissenen Apfel im Schoß, reichte sie mir den Joint, und ich setzte mich neben sie. „Gleich wird es wärmer“, sagte ich paffend, aber sie antwortete nicht. Und so bietet man den Lesern den mit minutiöser Präzision geschilderten Messie-Haushalt einer heruntergekommen Bardame, die als Prostituierte arbeitet und tot in ihrer Wohnung liegt. Ihre nackte Brust wird für die beiden Jugendlichen, die in die Wohnung eindringen, zum Forschungsobjekt. „Was meinst du?“, fragte er und bückte sich nach einem silbernen, mit Pailletten bestickten Täschchen. Ein winziges Fernglas war darin. „Ob wir sie kurz pimpern können? Die ist doch noch gut, oder? Wir legen ihr was übers Gesicht …“ / Ich blickte auf den Mund der Frau, die falschen Zähne, zwischen denen es Speisereste gab, und war mir nicht sicher, ob er es ernst meinte; vielleicht wollte er mich testen. Doch das Herz schlug mir im Hals, und meine Stimme war fast nur noch Atem, als ich sagte: „Was soll denn das heißen? Bist du verrückt?“

Tabus werden immerzu in einer Art und Weise ignoriert, dass einem beim Lesen die Kinnlade herunterklappt. Sex wird sehr offen verhandelt und bald jede Geschichte beinhaltet eine (oft derbe) Sexszene oder eine Anspielung, bei der auch meist das Vokabular umschlägt. Sex erscheint hier bisweilen losgelöst von Liebe als netter Zeitvertreib. Es wirkt fast ein wenig inflationär, was alles unternommen wird, damit der Leser am Ball bleibt –– Sex sells?! Es kommt einem hie und da so vor, dass immer, wenn der Plot als solcher etwas dürftig ausgefallen ist oder kein guter Schluss in Sicht war, es mit umso „tabubrecherischeren“ Inhalten und Wendungen in der Geschichte wettgemacht werden soll. Nicht nur eine Erzählung endet damit, dass ein Paar (wieder?) miteinander ins Bett geht, es kommt also zum „Happy End“– und, etwas böse formuliert, erscheint einem im Nachhinein die ganze Story vorher nur als Anbahnung des Geschlechtsaktes. Sex als deus ex machina? Umgekehrt gelingt es Rothmann, bei der Beschreibung eines Hochglanz-Pornomagazins das Abgebildete nur durch ganz zurückgenommene Andeutungen entstehen zu lassen. Des Weiteren sind die Mittel zur Spannung ein ums andere Mal die Ästhetik des Ekels.

Trotz aller „deftigen“ Details kann man diese Lektüre „couchkompatibel“ nennen – ein Begriff, wie er seit einiger Zeit in manchen Rezensionen zu lesen ist und inzwischen mehr Realsatire seiner selbst ist. Süffige Prosa also für den gestressten couch potato, der nicht mehr will als Konsumliteratur? Viele der Geschichten erwecken den Eindruck, dass die Story als solche gar nicht so wichtig ist; wichtig hingegen ist die Bilderfülle, die Intensität und Schockwirkung der Bilder, das „übergriffige“ Überschreiten natürlicher (Scham‑?) Grenzen aus Gründen der Dramaturgie. Zwischen den Zeilen steht wenig. Hier wird nicht angedeutet, hier wird nahezu alles 1:1 ausgesprochen, hier ist alles das, was es ist, ohne Parabel, Gleichnis, o. ä. zu sein. Die Schockeffekte sind also rein inhaltlicher Natur.

Die Prosastücke selbst sind „klassisch“ und linear erzählt, dabei hochnarrativ und entwickeln meist nur einen Erzählstrang, der chronologisch von A bis Z „herunter“erzählt wird: Der klassische Spannungsbogen also, wie man ihn aus dem Schüleraufsatz kennt, mit Einleitung, Höhepunkt, Schluss. Wer auf raffinierte Prosa mit komplexeren (Erzähl-) Verfahren steht, kommt hier nicht auf seine Kosten. Die Erzählweise orientiert sich allenfalls ein wenig an der amerikanischen Kurzgeschichte. Allzu wilde Vor- und Rücksprunge werden nicht veranstaltet, dem Leser wird also – was manche als Vorteil sehen können – auf der Handlungsebene nicht viel zugemutet. Dafür sind die Settings der Geschichten psychologisch sehr stimmig. Und obwohl die Geschichten so unterschiedlich sind, korrespondieren sie doch in gewisser Weise miteinander.

Man darf bei allem nicht vergessen: all das hat rein sprachlich gesehen höchstes Niveau. Der Autor ist Meister des Show, don‘t tell. Es steht kein Wort zu viel auf dem Papier. Rothmanns Texte lamentieren nicht, kommentieren sich nicht selbst, dozieren nicht, missionieren nicht und haben keinerlei Längen. Sie sind stattdessen plastisch, bildreich und bringen ihr Sujet immer auf den Punkt. Und damit sie nicht, bei allen Qualitäten, zu brav und in ihrer Mustergültigkeit einfach nur streberhaft wirken, werden dem Leser ungeniert ein paar Textstellen um die Augen gehauen, die es in sich haben. Hierbei wird jede Menge Staub aufgewirbelt. So wenig die Geschichten um ihre „Bilder mit Schockwirkung“ verlegen sind, so wenig kennen sie hierbei Pietät. In der Schilderung der Köpenicker Blutwoche erreichen die Darstellungen der „Massakrierten“ fast Konsalikniveau. Es gibt Berichte, nach denen die SA-Leute eimerweise herausgeschlagene Gehirne und abgeschnittene Finger, Nasen oder Genitalien in die Gosse kippten, vor die Hunde. Der Hintergrund des drastischen Ereignisses dient hier als reine Folie für – wenn auch gute – Kolportage. Diese findet sich am anderen Ende der Skala dieser teils exzellenten Prosa.

Sehr schön beschrieben ist in der Erzählung Sterne tief unten die kurze Freundschaft zwischen dem kleinen Vincent und dem Hilfsarbeiter „Onkel Gabi“, der für den Abtransport der Leichen verantwortlich ist, sie wohnen Tür an Tür zur Anatomie. Beide bewältigen ihr Leben auf ihre Art. Der kleine Vincent befindet sich in seiner Fantasie am Anfang einer steilen Karriere zum Dichter von Rang und verfasst gereimte Gedichte über Mäuse, denen Körperteile fehlen. Und kaum hat er sich mit Onkel Gabi befreundet, geht es für den Schauspielersohn weiter nach Sydney. Dabei hat sich der kleine Junge so sehr nach Freundschaft und einer dauerhaften Bleibe gesehnt. Bei Rothmann werden zwischenmenschliche Brüchigkeiten sehr fein gezeichnet. Haarscharf getroffen ist, was zwischen Jugendlichen abläuft, wie sie sich verbal und nonverbal gegenseitig wertschätzen und abservieren, in ihrer flapsige Sprechweise Rang- und Hackordnungen klarmachen: wer wem womit imponieren will und wie gar nicht so einfach die Denke dahinter ist. Ob im Pariser Straßencafé, im japanischen Zen-Kloster, im Krankenhausalltag in der Anatomie oder unter Tage – Rothmann beherrscht die unterschiedlichsten Settings fulminant. Zwischen den Sulkys auf der Trabrennbahn und danach im Stall zwischen den Pferden entsteht echtes Ben-Hur-Feeling. Sechs Geschichten spielen in der Jetztzeit, zwei von ihnen in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sehr authentisch auch die Geschichte eines Jugendlichen, der u. a. über Zigarettenmarken klar verortet wird. Oft genügt Rothmann ein Wort wie „Jobcenter“, um klarzumachen, in welcher Zeit man sich befindet.

Regen, ein leises Geriesel, schraffierte die Stille. Inmitten der teilweise so vorhersehbaren Prosa stehen Sätze, die für sich gesehen wahre Wortzauberwerke sind. In einem Rinnsal drehte sich ein Wasserrad aus Kork, hier und da krochen Eidechsen über die Wege, und eine violett schimmernde Libelle durchzuckte die Luft, um dann wie festgezaubert darin schweben zu bleiben. Menschen werden mit wenigen Strichen haarscharf skizziert. Der sandige Schimmer von Dreitagestoppeln lag auf den Wangen, und am Kinn gab es nach wie vor jene Mulde, die ihn schon reif und erwachen wirken ließ, als wir noch milchbärtige Jungs in Uniform waren. Und auch emotionale Regungen werden treffsicher dargestellt. Er aber trat einen Schritt zurück, und momentelang glaubte ich zu sehen, wie der kühle Schatten eines längst vergessenen Schmerzes über seine Züge strich. Der Autor arbeitet mit markanten Synästhesien, die zum Teil etwas Psychedelisches haben. Ich musste an die Nächte denken, in denen man uns zum Wachdienst verdonnert hatte, Schulter an Schulter in einem Erdloch am See, wo kaum mehr zu hören war als das gelegentliche Tschilpen irgendwelcher Vögel, wie zarteste Silberbeschläge am weit entfernten Rand der Stille.

Ralf Rothmann ist 1953 in Schleswig geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen. Er absolvierte nach dem Besuch von Volks- und Handelsschule eine Maurerlehre, arbeitete einige Jahre auf dem Bau und übte anschließend unterschiedliche Jobs aus. Rothmann veröffentlichte einige Romane, Erzählungen und Lyrik. Themen seiner Prosa sind häufig Schilderungen der Lebenswelten von Bergarbeitern und Jugendlichen im Ruhrgebiet. Sein Werk wurde mit zahlreichen renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet (Heinrich-Böll-Preis 2005, Max-Frisch-Preis 2006 und Walter-Hasenclever-Preis 2010). Der Autor lebt seit 1976 in Berlin.

Ralf Rothmann
Shakespeares Hühner
Suhrkamp
2012 · 211 Seiten · 19,95 Euro
ISBN:
978-3-518422489

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