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Kritik

In mir wäre noch Platz für eine weitere Wohnung

Hamburg

Ich habe noch nie etwas von Ricarda Kiel gehört. Trotzdem habe ich mir den Gedichtband „Kommt her ihr Heinis ich will euch trösten“ als zu besprechendes Buch gewünscht. Der Titel allein hat mich neugierig gemacht. Neugierig im Sinne von: nichts erwarten. Da ist etwas, das keine Vorstellungen aufruft, nichts, was eine unbefangene Lektüre beeinflusst, einengt oder begrenzt. Aber natürlich stimmt das so nicht. Ich erwarte Gedichte, die mich trösten.

Die handschriftlichen Kürzestzeiler, die zwischen die gedruckten Gedichte geschoben sind, ergeben aneinander gereiht fast so etwas wie eine vorläufige Zusammenfassung dessen, was in diesem besonderen hochroth Bändchen geschieht: Dem Angebot zu trösten folgt das Anlocken. Sind die Leser erst einmal da, gibt es eine Anweisung, gefolgt von einer Bestandsaufnahme, dem Hinterfragen, dem wiederum eine Feststellung folgt. 
Ansage-Aussage-Absage-Aufgabe.

Auf Ricarda Kiels Website als Web-Designerin steht: „Ich bin nicht auf dieser Welt, um Leuten eine glänzende Oberfläche zu bauen […]“ Diese entwaffnende Ehrlichkeit zeichnet auch ihre mutig „unperfekten“ Gedichte aus, die so lebendig sind, dass sie sich in keine Form pressen lassen, die sie nicht sofort wieder sprengen würden. 
Es wird viel gelacht, überhaupt genießen (oder feiern) die Gedichte von Ricarda Kiel mehrheitlich das Leben, nicht ohne sich einer Idee zu nähern, die nichts anderes sein kann als eine Idee von Trost:

„Ich will eine Stimmung bauen,
eine Wellness-Anlage
für den unglücklichen Voxl im Exil
in Fellbach-Schmiden oder
so etwas, was ihm gut tut.“

Was dem „beleidigten Innenkopfvogel“ Voxl gut tut, können Enthüllungen sein, oder Erkenntnisse, wie alles hängen bleibt am Leib zum Beispiel.

Auf jeden Fall ist es ein Blick, der die Dinge „verrückt“, so dass Schokoladenflecken erstaunt zurückschauen. Was eine Voraussetzung dafür sein könnte, auch auf Dinge, die man nicht geahnt hat, vorbereitet zu sein. 
Die Metaphern schießen vielleicht manchmal über das Ziel hinaus, aber das passiert schon mal, wenn man keine Grenzen akzeptiert, und den Schwerpunkt auf die Feier des Lebens legt. Dann werfen sich halt „Maiskolben in Windeln“ „Kotzküsse“ zu. 

Ricarda Kiels Gedichte sind angenehm voraussetzungslos. Gedichte, die mich mit offenen Armen empfangen. Sie feiern „was da ist“. Ohne Seitenzahlen. Ohne Zwang. Jedenfalls muss ich wohl ein Heini sein, denn diese Gedichte haben mich getröstet. So wie das erste lächelnde Gesicht nach dem man an einem Regentag Dutzenden von griesgrämigen Gesichtern ausgewichen ist. 

Vielleicht ist dieses titellose Gedicht so etwas wie ein Schlüsselgedicht:

    Die ganzen Jahre war ich ein Jugendlicher
    in kurzen Hosen mit goldenen Waden,
    der in der einen Hand
    eine weiße Plastiktüte hält und 
    eine Cola-Flasche, auf der sich Tropfen bilden,
    der mit der anderen Hand in großem Bogen
    winkt, ich war die Ein-Euro-Münze auf dem Boden,
    war der Kaktus, dem ein neuer Arm wächst,
    aber je mehr ich in mich hineinsinke und 
    die Form ausfülle, die ich vorfinde, merke ich,
    dass ich eine andere bin, eine Frau mit vielen 
    langen Röcken, die auf dem Platz vor der Kirche
    steht und murmelt, die Serviette,
    die auf der Styroporpackung in der Tüte liegt,
    und ich stelle fest, dass ich das schon ahnte
    und mich vorbereitet habe.
    Du bist auch anders geworden, du bist
    ein Flamingo, das hatte ich nicht geahnt,
    aber ich bin trotzdem darauf vorbereitet.

Weil es demonstriert, dass Kiels Gedichte bei aller Leichtigkeit eine Tiefe haben, und die Fertigkeit dem Leser andere Ebenen zu eröffnen.

Selbst wenn sich die Gedichte mit Outfits beschäftigen, dem vielleicht oberflächlichsten Thema, im wahrsten Sinn des Wortes, entledigen sie sich zum Schluss der Verpackung, um festzustellen, dass unter mehreren Schichten gut ausgewählter Kleider, die wir über unseren missmutigen Körpern tragen, noch etwas ist.

[…] im Badewasser erzeugt mein Herzschlag
Konzentrische Kreise,
ich bin wohl noch da.

Man könnte den Stil dieser Gedichte vielleicht irgendwo zwischen Post-Expressionismus und Neo-Surrealismus verorten. Aber ich will Ricarda Kiels Gedichte gar nicht pseudowissenschaftlich einordnen. Ich möchte sie lieber, fernab von jeder Expertise, feiern. 

Diese Gedichte nehmen sich nicht vor, über etwas hinaus zu gehen. Sie tun es einfach. Sie wollen auch nirgendwo hin, sondern sind ganz bei sich selbst. Weder grübelnd noch nach Erkenntnis suchend, sondern einfach nur erlebend. Lebendig. Und das ist ihr Trost.

Kiel feiert hier u.a. auch ihre eigene nahezu ungezügelte poetische Fantasie, mit einem lyrischen Ich, das ständig beweist, dass in ihm noch „Platz wäre für eine weitere Wohnung“. Ich bin sehr geneigt, das zu glauben. Und in dieser Wohnung beherbergt sie den Trost.

Ricarda Kiel
Kommt her ihr Heinis ich will euch trösten
hochroth verlag (München)
2019 · 50 Seiten · 8,00 Euro
ISBN:
978-3-903182-35-6

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