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Kritik

Die Kabel, die mich mit der Wirklichkeit verbinden

Hamburg

Ein weiterer früher Roman Roberto Bolaños ist Monsieur Pain, aber anders als der hochexperimentelle Antwerpen und der Tribute-Roman Der Geist der Science Fiction ist letzterer ein sehr selbständiger und dem Autoren nach auch „wettbewerbserfolgreicher“ Beitrag gewesen, geschrieben 1983, veröffentlicht 1999 auf dem Höhepunkt des Hypes. Er lockt die Lesenden auf eine falsche Fährte, wenn er scheinbar einfach, fast unbeteiligt in eigentlich unter Bolaño-Niveau stehenden Sätzen anfängt, wie

Hören Sie, Chef, ich hab ein seltsames Gefühl.

Das Erstaunliche ist die weitere Entwicklung und besonders das zunehmende Heben und Verdüstern der Sprache, der tonale (Ver-) Fall. Eine Technik, die der Lyriker Bolaño mit nahezu unheimlicher Perfektion beherrscht, siehe der seltsame Tempoverlust in Die wilden Detektive u.a. In Monsieur Pain ist die „Handlung“ schnell erzählt, denn es ist keine da. Vielmehr eine Grundsituation, die sich als Collage immer weiter ausfächert, um schließlich in einer total abgefahrenen, nach dem Roman„ende“ befindlichen Stimmensammlung namens Der Elefantenpfad zu resultieren, womit wir endgültig nicht mehr wissen, was wir da gerade in Händen halten. Jedenfalls Pierre Pain, der Protagonist und Erzähler, der scheinbar mühelos zwischen den Erzähltempi wandern kann, warum (?), ist ein Akupunkteur und Kartenleser, der sich auf den Mesmerismus eingelassen hat, in einer erneuten Tribute-Situation auf den unsterblichen Poe natürlich, der wiederum aber ziemlich ernst genommen wird von mehreren Frauen, eine davon Mme Reynaud, die ihn bittet, das todkranke Dichtergenie César Vallejo 1938 im Krankenhaus zu besuchen/ sich seiner anzunehmen. Dies ist eine verbürgte Situation, Vallejo starb wie eine langsame Abblendung eda. Doch kafkaesk genug, kommt Pain dem Dichter nicht wirklich nahe, bis auf eine Ausnahme. Er wird gehindert von zwei „Spaniern“, seiner eigenen zunehmenden Verloren-/ Verliebtheit und einer absinthähnlichen Verfärbung der ganzen Situation, in der Pain wie Walter Benjamin durchs Passagenwerk Paris irrt, in dunkle vernebelte Räume voller 30er-Jahre Pathos geführt wird, quasi negativ flaniert, und es im Grunde nicht aushält, dass Vallejo tatsächlich an einem monströsen Schluckauf leidet.

Die Stille des Zimmers wirkte wie durchlöchert [...] Vor mir ruhte, fast schüchtern, das scharf geschnittene Gesicht des Kranken [...] In der Stille des Zimmers war allein sein Schluckauf zu vernehmen. Ich weiß, ich werde nie imstande sein, Vallejos Gesicht zu beschreiben, zumindest so, wie ich es bei diesem einzigen Zusammentreffen sah; aber der Schluckauf, die Natur dieses Schluckaufs, der alles einhüllte, sobald man nur hinhörte, will sagen, sobald man wirklich hinhörte, entzog sich jeder Beschreibung, ein Allerweltsphänomen und gleichzeitig etwas wie ein tönendes Ektoplasma oder eine surrealistische Trouvaille.

Ich sagte, die „Natur des Schluckaufs“, und vielleicht war das eine seiner Besonderheiten, zumindest war dies mein Eindruck, nämlich dass er seinen Ursprung in sich selbst hatte. Wie jeder weiß, ist der Schluckauf eine muskuläre Kontraktion [...] nun schien aber Vallejos Schluckauf ganz im Gegenteil im Besitz einer totalen Autonomie zu sein, die in keinerlei Beziehung zum Körper meines Patienten stand, so als sei nicht er am Schluckauf erkrankt, sondern der Schluckauf an ihm. So dachte ich.

Sätze wie „Der Weg verwandelt den Mann, der bedient, und den, der im Dunkeln sieht, in ein und dieselbe Person“ stehen eingebettet in die Psychogeographie Pains, der man an die merkwürdigsten Orte folgt. Zum Beispiel der Bar mit den halbstündig pinkelnden Kellnern, Kinos, in denen Footage von Marie Curie und Guillaume Terzeff, eine Romanze von Michel und Pauline sich überschneiden, nächtliche Cabarets, und Pain erzählt:

Endlich kehrte ich nach Hause zurück, nachdem ich durch auf ihre Weise wie aus der Welt gefallene Stadtviertel geirrt war, aufgelassene Bahnhöfe, scheinbar endlose Alleen, die völlig unvermittelt in ödes Gelände mündeten, von denen ich nie geahnt hätte, dass sie sich in diesen Teilen von Paris befänden.

Pain gelangt an seltsame Aquarien ... :

Ich ging näher heran. Auf dem mit feinem Sand bedeckten Grund des Aquariums ruhten Miniaturen von Schiffen, Eisenbahnzügen und Flugzeugen, alle so positioniert, dass sie Katastrophen simulierten, Unglücksfälle, wie festgehalten in einer künstlichen Zeit, und darüber zogen ein paar rote Fische ihre gleichgültigen Kreise.

... und in dunkle Hallen stehengelassener, „mühlenartiger“ Maschinen:

Wo zum Teufel hatte man mich abgesetzt? Ich hatte keine Ahnung. Die Halle schien erstarrt im Moment ihrer Selbstzerstörung.

Pain scheint, wie die Welt, alles verschlafen zu haben, auch wenn schlafgewandelt, und Vallejo ist schließlich tot. „Jetzt wird er berühmt“, heißt es am Ende, und so ist es, war es. Übersetzer Heinrich von Berenberg holt die sprachlichen Nuancen Bolaños raus, das Suggestive und Verwirrende. Man pirscht in dieser Geschichte und Sprache, man wird blass und ist das wirklich Pfefferminz im Likör?

Roberto Bolaño
Monsieur Pain
Übersetzung:
Heinrich von Berenberg
Fischer
2019 · 176 Seiten · 21,00 Euro
ISBN:
978-3-10-397418-8

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