Kling, offene Wunde
Kling ist Hit. Schlag ins Gesicht der bräsigen BRD-Lyrik vor ihm. Für viele Vorbild, das beweist, „dass Lyrik auch ganz anders abgehen kann“, als man nach Schulbuchlektüren und dem Versfußabzählen zu meinen geneigt ist. Jemand, dessen Gedichte, zumindest zeilenweise, tatsächlich lange, lange im Gedächtnis bleiben. Auch ohne allzu großen historischen Horizont entgeht wohl keinem, dass in Klings Lyrik eine Arbeit am Wortwerk vor sich geht, die mehr will als mit Wissen zu glänzen oder sich an dem Einsatz rhetorischer Mittelchen zu ergötzen. Wenn man aber die Mühen der Interpretation auf sich nimmt, verwandelt sich die Faszination in Einsicht, legt man frei, woraus seine Gedichte ihre ungeheure Kraft ziehen, was eben nichts mit Zauberei zu tun hat, auch wenn sich Kling gern als Schamane verstand.
Die Kling-Forschung kam nach seinem frühen Tod 2005 schnell in Gang, geriet aber nach einer Monografie von Hubert Winkels („Der Stimmen Ordnung“), Peer Trilckes online frei zugänglicher Dissertation „Historisches Rauschen“ und dem Tagungsband „Das Gellen der Tinte“ etwas ins Stottern. Abhilfe schafft jetzt ein Band aus dem mentis-Verlag mit dem schlichten Titel „Gedichte von Thomas Kling. Interpretationen“. Frieder von Ammon und Rüdiger Zymner, die den Band herausgeben, wollen mit diesem Buch auf einen Mangel reagieren. Denn „eingehende analytische und interpretatorische Auseinandersetzungen mit seinen Gedichten, mit Texten also, die oftmals so komplex und voraussetzungsreich sind, dass sie der Erläuterung in einem besonderen Maße bedürfen“ wurden bislang kaum veröffentlicht. Wer also darauf setzt, ein essayistisches Setzungsgewitter zu lesen, das auf wenigen Seiten meint, den ganzen Kling in Windeseile auf den Begriff zu bringen, wird mit diesem Band wenig anfangen können. Stattdessen geht es um genaue, geduldige, sehr gut informierte Auslegungen einzelner Kling-Gedichte aus allen Werkphasen. Teils können sie sich aber vom drögen akademischen Duktus zu wenig lösen. Erwähnenswert ist, dass der der Band seine Leser nicht mit den Deutungen autoritär allein lässt, denn vor jedem Aufsatz wird das Gedicht, das Thema ist, in Gänze abgedruckt.
Kling wird von seinen Exegetinnen und Exegeten u. a. als Archäologe des Ersten Weltkriegs, als „europäischer Wespendichter“, Psychiatrie- und Mediengeschichtler, als Live-Act, Hexenforscher und Erneurer der Ekphrasis gelesen.
Letzteres ist Mirjam Springers Thema: Sie kommt in ihrer Auseinandersetzung mit Klings Gemäldegedichten seinem „hermetischen Realismus“ auf die Spur, der für sie einen komplexen Übersetzungsprozess darstellt. Unter Zuhilfenahme von Kunstwissenschaft, Klings Arbeitsbuch eines New York Aufenthalts und theoretischen Statements des Dichters, legt sie das Gedicht „PIERRO DELLA FRANCESCA (schule): AUGUSTINERIN“ aus, wie man es ohne sehr viel Recherche eben nicht könnte. Dieter Burdorf wiederum hat sich, um dem Gedicht „Amaryllis Belladonna“ einiges Wissen der Botanik angeeignet, um zu zeigen, dass es sich um ein „beeindruckend aktuelles Update von Rilkes Pflanzengedichten“ handelt.
Im ersten Aufsatz des Bands beschäftigt sich Friederike Reents mit den berühmt-berüchtigten „ratinger hof“-Gedichten, die zu den meistgelesenen Klings gehören. Unter Berücksichtigung seiner Hölderlin- und Benn-Rezeption geht sie ihnen literarhistorisch nach und begnügt sich nicht mit ein paar Anekdoten über die Düsseldorfer Punk-Disco:
„Kling tritt an, um mit seinem scharfen Blick beziehungsweise seinem feinen Gehör traditionsbeladene Sprachräume visuell und akustisch zu sezieren, ja, zu dekonstruieren, um sie nach entsprechender kritischer Bestandsaufnahme seinem ‚stillen laboraltar‘ neu einzurichten.“
Dass Kling dabei seine Gedichte konkret, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit entfaltet und wie Benn Sprechkörper auseinandernimmt, um, wie Hölderlin sagte, „zeitliche Entgegensetzungen ineinander vergehen“ zu lassen, damit „ein neues Leben anfängt“, unterscheidet sein Werk also nicht nur von formalistischer Lautpoesie, sondern macht ein durchaus politisch Verständnis dieser Texte deutlich. Er entzieht sich seiner Zeit nicht und verfällt doch nie dem Irrtum, dass alles im Jetzt aufgeht. Obwohl die Interpretationen sich ausführlich auf die einzelnen Texte einlassen, sind sie teils um große Thesen nicht verlegen. Achim Geisenhanslükes Beschäftigung mit Klings Wespengedichten etwa begnügt sich keinesfalls mit gelehriger Referenz-Sucherei, sondern stellt heraus, dass
„Klings Gedichte sich (…) als Angriff auf den Leser zu erkennen (geben). Die sprachliche Performanz, die insbesondere bei seinen Lesungen körperlich spürbar wird, ist integraler Bestandteil einer Poetik, deren Ziel es ist, der antiken rhetorischen Bestimmung des movere zufolge den Menschen zu berühren – allerdings in der schmerzhaften Form des Stichs.“
Klings spracharchäologische Erkundungen haben also nicht den Zweck, sich hinter Wissen zu verschanzen oder Sprache, Grammatik, Syntax aus zielloser Zerstörungswut Gewalt anzutun. Im Gegenteil: Die Gedichte zielen darauf ab, Wunden offenzuhalten, sorgen dafür, dass den Lesern eben nicht Hören und Sehen endgültig vergeht.
Wer sich doch daran versuchen will, in den Interpretationen, so etwas wie der impliziten „Geschichtsphilosophie“ Thomas Klings nachzuforschen, könnte sich diese Auslegung Geisenhanslükes im Kontrast zu Rüdiger Zymners Aufsatz „Irgndwi. Geschichte vor dem Absturz“ vornehmen. Zymner erscheint nämlich Geschichte in dem Gedicht „autopilot. phrygische arbeit“ als „von mythischen Mächten (vor-)bestimmten Prozess“, ja dass sie „geregelt schlecht verläuft und ‚der Mensch‘ ihr nicht gewachsen ist. Er ‚macht‘ demnach die Geschichte nicht, sondern kann sie nur erleiden.“
Für Leserinnen und Leser, die bereits ein gehöriges Interesse an Kling mitbringen und die Geduld, Interpretationen zu folgen, die sich den Platz nehmen, nach und nach ihren Gegenstand zu erhellen und die Deskription nicht scheuen, ist dieser Band eine Empfehlung.
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