Den Toten erleben
»Speech, as it were, has become immortal«, zitiert Friedrich Kittler in seinem medientheoretischen Werk Grammophon – Film – Typewriter einen Artikel aus der Zeitschrift Scientific American aus dem Jahr 1877. Worum es ging? Die Erfindung des Phonographen durch Thomas Alva Edison. Mit der war die von allen Seiten so geschätzte, von manchen sogar überschätzte Stimme, endlich auf demselben Level wie die Schrift angekommen. Es hatte nur ungefähr 8500 Jahre gedauert. Nach einem ersten, nicht ganz so zaghaften »Hullo« sang Edison ein fröhliches »Mary Had A Little Lamb« in den Schalltrichter und die Nadel kratzte Schallwellen in das Wachs. Der mündlich überlieferte Sang wurde – zwar nicht wirklich für die Ewigkeit, immerhin doch aber für eine ganze Weile – aufgeschrieben und konnte zu einem beliebigen Zeitpunkt wieder zum Tönen gebracht werden. Gesprochene Sprache und geschriebene Schrift lebten seit jeher in einem engen, nicht immer aber freundlichen Verhältnis zueinander. Mit dem Beginn der Tonaufzeichnung sollte es noch ein bisschen komplizierter werden. Einer, der die Wechselwirkungen wie sonst kaum jemand zum Arbeiten bringen konnte, kann jetzt wieder gehört werden.
Thomas Kling ist tot, er starb am 1. April 2005. Er lebt allerdings weiter. Er lebt durch das uralte Privileg der Schrift weiter, Identitäten über das Vergehen der dazugehörigen Körper hinaus fixieren zu können. Er lebt auch weiter, weil von ihm Aufnahmen existieren – seine Stimme ist Teil der analogen und digitalen Polyphonie geworden. Mit dem sich über vier CDs erstreckenden Kompendium Die gebrannte Performance haben Ulrike Janssen und Norbert Wehr ihm durch ihre Herausgeberschaft ein physisch-digitales Mausoleum gebaut, in dem er weiterspuken kann. Vielleicht sogar spucken kann. Denn Kling gab nicht nur Lesungen, wie es etwas unpassend im Untertitel heißt, er inszenierte Sprachinstallationen. Mit vollem Stimmeinsatz, mit Geschrei und Geflüster. Seine zahlreichen Gedichtbände, die er seit 1977 veröffentlichte, glichen somit eher Partiturensammlungen.
Es ist genau dieses Jahr 1977, ein Jahrhundert nachdem Edison sein »Hullo!« in den Trichter blökte, in welchem der Punk in Deutschland ankommt. In drei Städten wird der Gospel der No Future-Generation des UK besonders herzlich empfangen: Berlin, Hamburg und… Düsseldorf? Ja, of all places Düsseldorf, der electri_city Deutschlands. Irgendwo zwischen Joseph Beuys‘ omnipräsenten Einfluss und Bierbankpunk entsteht in Düsseldorf eine ganz neue Szene, die die die Methoden der Kunstwelt adaptiert und die Attitüde von Bands wie Wire nach außen trägt. Dreh- und Angelpunkt der Szene ist der Ratinger Hof, dem Kling einen Kurzzyklus widmet: »stimmts outfit? das ist dein auftritt!«, heißt es in RATINGER HOF, ZETTBEH (3). Kling fängt die »nachtperformance, leberschäden, / schrille klausur« der damaligen Szene mit rotziger Akkuratesse ein. Wie aber Punk nicht völlig aus dem Nichts aufschlägt, so schreibt sich Kling ebenfalls aus einer reichhaltigen Tradition her.
In seinem Buch Lipstick Traces zog der Musikjournalist Greil Marcus einen schmierigen roten Faden vom Dada über den Situationismus bin hin zu Johnny Rotten. Der Poetenpunk Kling allerdings bezieht sich auf eine andere, wenngleich zum Dada ungefähr simultan entstandene literarische Strömung, die zumindest in ihrer kopflosen Haltung näher am Punk zu sein scheint: Sein Erweckungsmoment hat er als junger Teenager mit der von Kurt Pinthus herausgegebenen Anthologie Götterdämmerung, nach der sich eine Gruppe von Dichter_innen mit völlig unterschiedlichen politischen Ansichten und poetologischen Programmen zu einer angeblichen Generation zusammengestrichen sehen muss – und das, obwohl das Alter der Protagonist_innen gravierend voneinander abweicht. Immerhin aber ist ihnen eine ikonoklastische Haltung gemein, ein Modus, die Welt anzugiften. Ähnlich, wie es Punk 60 Jahre später mit aller gebotenen Rücksichtslosigkeit tut: »I am an antichrist / I am an anarchist«.
So tritt auch Kling buchstäblich auf die Bühne der Literaturszene der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. Die verschnupfte Neue Subjektivität mit ihren Wasserglaslesungen ödet ihn ebenso an wie die mittlerweile zum Selbstzweck geronnenen Performancekonzepte seiner Zeitgenoss_innen, die ihre eigene Vagheit mit ein paar wenigen prätentiösen Gesten fortscheuchen möchten. Kling ist kein Performer, er ernennt sich aus »Notwehr« zum Sprachinstallateur. Sein Punk zieht sich keine Sicherheitsnadeln durch die Wangen, sondern wirft sich ein barockes Korsett über. Kling entwickelt eine eigene Formstrenge, die sich mittlerweile auch an den Dichter_innen der Wiener Gruppe und deren Umfeld, vor allem H. C. Artmann und Reinhard Priessnitz, orientiert. Gerade Artmanns Texte sind ein gateway in eine noch viel weiter zurückliegende Vergangenheit, die augenscheinlich nicht so recht mit Klings Gegenwart zu vereinen ist. Barock und Punk? No way. Obwohl: Da Johnny Rotten ein Pink Floyd-Shirt trug, auf das er »I hate« gekrakelt hatte, können wir annehmen, dass er sich eines Tages ein Pink Floyd-Shirt gekauft hat.
Es fließt viel von allen Seiten und aus allen Zeiten in das Lesen und Leben Thomas KIings ein, auch die bildende Kunst wird ihn immer wieder beschäftigen und selbstverständlich die Musik. Die drei CDs von Die gebrannte Performance, die Klings Lesungen, pardon, Sprachinstallationen von 1984 bis 2001 enthalten, versammeln auch Kooperationen Jörg Ritzenhoff und dem mittlerweile ebenfalls verstorbenen Schlagwerker Frank Köllges. Kling sah sich – oder, Moment, nein: hörte sich – in der Tradition der Dichtersänger. Texte waren Sprachspeicher, so der Titel einer von ihm herausgegebenen Anthologie, reichhaltige historische Dokumente also, die sich installieren ließen. Gedichte waren wie die Wachsrollen Edisons: auf- und abrufbar gemacht zum Zwecke, damit Präsenz zu simulieren. »Sprachinstallation vor der Sprachinstallation«, transmediale Prozesse. Nicht etwa dass Kling, so erinnert sich jemand im Begleitheft zu Die gebrannte Performance, überhaupt vom Blatt abgelesen hätte. Klings Lyrik war ein Live-Erlebnis. Jetzt aber ist Kling tot, seit zehn Jahren schon, und wir können nur noch den Toten erleben.
Dazu wurde der Phonograph ebenfalls erfunden: Als Speichermedium für die Stimmen der Toten, um sie auf- und abrufbar zu machen, ihre Präsenz zu simulieren. Die gebrannte Performance tut das, erschöpfend, und sie ist damit im besten Freudschen Sinne unheimlich. Neben den Sprachinstallationen Klings und den Erinnerungen von Weggefährt_innen aus dem Begleitbüchlein ist es vor allem eines der beiden auf der vierten CD enthaltenen Gespräche, welches Kling zum schaurigen Wiedergänger macht. Während das holprige, bis zur Unhörbarkeit verrauschte Interview mit Gabriele Weingartner bis auf ein paar Informationen zur Leserbiografie Klings kaum Aufschlüsse birgt, dringen Hans Jürgen Balmes und Kling selbst in ihrem rund 30minütigen Interview ähnlich tief in die Materie ein, wie Kling das mit seinem letzten Band Auswertung der Flugdaten tun sollte. Kling ist hörbar angeschlagen; er hat nicht viel geschlafen, seit Monaten schon nicht mehr. Aber sein Geist rotiert immer noch, sein Interesse gilt vor allem der Poesie, ihrem Zusammenhang mit der Naturwissenschaft, ihrer Geschichtlichkeit und was sich daraus bergen lässt.
Einer von Klings Vier Wünschen für den professionellen Vortrag des Gedichts, wie sie auch im Begleithaft zu Die gebrannte Performance zu lesen sind, lautete: »Die Leute sind gar nicht so doof, wie ihr glaubt. […] das Gedicht kann sich ganz gut selbst moderieren!« Es braucht den Sprechspeicher Die gebrannte Performance nicht unbedingt als Schlüssel für die Sprachspeicher Klings, es braucht nicht unbedingt seine Sprachinstallationen nach den Sprachinstallationen. Sie ist aber eine schönstmöglichen Huldigungen an einen Dichter, der die Wechselwirkungen zwischen gesprochener Sprache und geschriebener Schrift wie kaum jemand anderes zum Arbeiten bringen konnte. Klings speech, as it were, has become immortal.
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben