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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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Kritik

Der Ur-Beckett

Samuel Becketts Initialwerk „Echos Knochen“ erscheint posthum
Hamburg

„Echo’s Bones", Samuel Becketts Erzählung aus dem Jahr 1933, trägt dieselbe Überschrift wie das Titelpoem seines Lyrikbands aus dem Jahr 1935, der damals kaum Beachtung fand und heute zu 4500 Dollar gehandelt wird: Dichtung, die umweglos ins Jenseits führt, in eine Vorhölle, wie Dante sie beschrieben hat, wo Sünder vom Schlage des Müßiggängers Belacqua in fetaler Sitzposition Abbitte tun müssen.

Der junge Beckett, der Dante mindestens genauso viel zu verdanken hat wie Joyce, macht Belacqua 1932 zu seinem Alter Ego und weist ihm die Hauptrolle in seinem ersten Roman „Dream of Fair to Middling Women“ zu. Als niemand das Werk veröffentlichen will, zerlegt er es kurzerhand in zehn miteinander verwobene Erzählungen, die der Londoner Verlag Chatto & Windus akzeptiert. Da dem Lektor Charles Prentice das literarische Debüt jedoch nicht seitenstark genug ist, reicht Beckett „Echo’s Bones“ nach, eine Prosa um den Wiedergänger Belacqua, der in dem bereits zum Druck angenommenen  Erzählwerk längst verstorben ist.

„Sie ist ein Alptraum“, schreibt Prentice kehrtwendend über die Erzählung an Beckett. "Die gleichen schrecklichen und plötzlichen Perspektivwechsel, die gleiche unauslotbare wilde Energie der Gestalten. Es gibt Passagen, mit denen ich nichts anfangen kann. ,Echos Knochen' würde, da bin ich mir sicher, das Buch eine Menge Leser kosten.“

Fazit: „Echo’s Bones“ erscheint nicht 1934 in London, sondern 2014. Im Suhrkamp Verlag liegt die Erzählung nun auf Deutsch vor, und zwar in der Fassung des Publizisten und versierten Beckett-Übersetzers Chris Hirte, der ein kenntnisreiches Nachwort verfasst hat, das der kenntnisreichen Einführung des Herausgebers und versierten Beckett-Forschers Mark Nixon folgt. Zudem enthält der Band Anmerkungen, Literaturhinweise, die übersetzen Briefe von Charles Prentice an Samuel Beckett, Dankesworte des Herausgebers – kurz, mehr Sekundär- als Primärliteratur, denn „Echos Knochen" umfasst weniger als sechzig Druckseiten.

Die Publikation ist ein lehrreiches Stück Literaturgeschichte: Der Text, der vor mehr als achtzig Jahren nicht verlegt, weil nicht verstanden und somit nicht verkauft werden konnte, gilt heute als höchstrelevantes Initialwerk des Nobelpreisträgers, der sich dem massenkompatiblen Realismus früh widersetzte und stur über sinistre Innenwelten schrieb.

Dazu gehört der Alptraum, dem die Erzählung „Echos Knochen“ in der Tat inhaltlich und strukturell gleicht mit ihren surrealistischen Collagen, ihren Verschränkungen von schwer zu Vereinbarendem, ihren abrupten Wechseln von Schauplätzen und Erlebnisebenen. Scharen grotesker Wesen, wie Boschs Altarbildern entsprungen, ziehen vorüber, ohne etwas zum Geschehen beizutragen. Und der Hauptakteur, der weder einen Schatten hat noch ein Spiegelbild, der kein Geist ist, aber auch kein Mensch, gibt fortlaufend Dunkeldeutiges von sich:

„Das alte Gelüst“, sagte Belacqua, „mich vor den Spiegel zu stellen und dann, wenn ich davor stehe, mein Gesicht von ihm abzuwischen, richtet in fünf Minuten mehr Schaden an als all die anderen Mühen und Qualen der Rückführung in einer ganzen Woche.“

Diese Prosa verweigert sich den Ansprüchen eines auf Plot und Psychologie setzenden Literaturverständnisses. Sie ist vielmehr ein Verschnitt aus dem fertigen Romanerstling und den unfertigen Schreibversuchen des ambitionierten, aber noch unentschiedenen Debütanten, der sich selbst und andere plagiiert und Bildungsreminszenzen aneinander reiht. Der Text ist ein „Dschungel“, wie es zu Beginn heißt, aus dem es gilt, ein Tryptichon zu schlagen - oder vielmehr "herbeizubemühen".

Denn das, was man die ungefähre Handlung nennen könnte, setzt sich aus drei disparaten Teilen zusammen, die kein Ganzes bilden: 

1.
Anfang: Belacqua ist auferstanden von den Toten, sitzt zigarrerauchend auf einem Zaun, wird von der Prostituierten Zaborovna Privet angemacht.

2.
Mitte: Der impotente Riese Lord Gall of Wormwood trägt Belacqua in ein Nest und bittet ihn, mit seiner Frau einen männlichen Erben zu zeugen, was allerdings mißlingt: Die Lady gebiert ein Mädchen.

3.
Schluß: Belacqua hockt auf seinem eigenen Grab, das der Totengräber Mick Doyle ausrauben will. Gefunden werden aber nur ein paar Steine.

„So geht es in der Welt.“ Mit dieser Grimm’schen Märchenformel endet dieses polymorphe Experiment, das als Literatur über Literatur gelesen werden kann und im Zeichen Ovids steht: Echos Knochen versteinern, allein die Stimme bleibt, muss sich aber – und hier ist Beckett ganz selbstverständlich selbstironisch - aufs Nachplappern beschränken.

„Nicht so poetisch“, brüllte Lord Gall. „Wie oft muss ich das sagen?“

„Echos Knochen“ ist ein genialisches Frühwerk in typisch Beckett’scher Manier mit kargen Schauplätzen, dominant-submissiven Beziehungen und monologisch wirkenden Dialogen, die ins Nichts zu führen scheinen.

„Da sehen Sie,“ sagte Belacqua, „die Welt ist schon seltsam. Und jetzt muss ich wirklich fort.“

Lord Gall starrte aus dem Fenster.

„Dann spring doch“, sagte er, „warte nicht auf mich.“

Endzeitstimmung und schwarzer Humor prägen diese kleine Prosa, die auf ein großes Werk vorausweist, in dem menschenähnliche Figuren in totaler Überforderung agieren. Belacqua, in Wort und Tat der Ur-Beckett, führt ihre Ahnenreihe an.

Samuel Beckett · Mark Nixon (Hg.)
Echos Knochen
bersetzung aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Chris Hirte
Suhrkamp
2019 · 123 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42878-8

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