Das Gleichnis vom Grottenolm
In einem von Jan Wagners berühmten Gedichten wird der Grottenolm mit prächtigen Vergleichen bedacht: Der augenlose Höhlenbewohner, heißt es dort, fliege „in päpstlichem weiß / durch höhlen, himmel“, er sei ein „kälterer Bruder“ in „epischem dunkel / mit nichts als der uhr / aus tropfendem wasser / und blind wie homer.“
Dieses „epische Dunkel“ erzählerisch auszuleuchten hat sich der Wiener Autor Simon Sailer zur Aufgabe gemacht. Um es gleich vorweg zu sagen: Homerische Heldengeschichten enthält sein Debut „Menschenfisch“ keineswegs. Im Gegenteil, Arseni, die Hauptfigur seiner Geschichte, ist alles andere als ein strahlender Krieger, der die Herausforderung sucht. Entstellt von einer schweren Schuppenflechte, die fast seinen gesamten Körper bedeckt, und geplagt von einer ständig verstopften Nase, hat er vermutlich eine lange Geschichte des Rückzugs von der Welt hinter sich – vermutlich, weil man über seine Vergangenheit nicht viel erfährt. Zuletzt hat er in einer slowenischen Tropfsteinhöhle als Guide gearbeitet, hat Touristen zwischen Stalagmiten und Stalaktiten herumgeführt und sie mit der „Langsamkeit des Höhlenlebens“ vertraut gemacht: Der Grottenolm, hat er immer wieder erzählt, könne durchaus einmal zehn Jahre ohne Nahrung in einer Felsspalte verbringen.
Zu Beginn des Buches sieht man Arseni tiefer und tiefer in die Höhle steigen. Er verlässt deren erschlossenen Teil, vielleicht, um sich für immer von der Welt der Menschen zu absentieren und einen dunklen, kalten Tod zu suchen. Was realistisch erzählt beginnt, wandelt sich jedoch schnell in eine Art von Höhlengleichnis: Arseni stößt auf eine unterirdische Halle voll von leuchtendem Schilf. Dort leben sprechende Gnus, die von einer Gruppe freundlicher Riesenolme gehütet werden. Einer davon hortet in seiner Hütte allen möglichen Krimskrams von der Erdoberfläche, der vom Wasser durch das Karstsystem in die Tiefe getragen worden ist. Offenbar ist auch ein Tennismagazin dabei, denn die beinahe menschengroßen Wesen heißen „McEnroe“, „Federer“ oder „Becker“. Ihr ganzes Leben lang verrichten die Olme gleichmütig eine Aufgabe, die sie sich selbst ausgesucht haben – und das, obwohl sie wissen, dass sie denkbar sinnlos ist. Die Gnus zum Beispiel würden ihre Milch auch ohne Betreuung spenden. Freundlich von den Olmen aufgenommen, tut sich Arseni schwer, zu einer ähnlich entspannten Grundhaltung zu finden. In uns Menschen zirkuliert nun einmal warmes Blut; wir können nicht ein Jahrzehnt lang in einer Spalte klemmen und auf den nächsten Bissen warten. So nimmt das Unglück seinen Lauf: Ungeduldig, seine Aufgabe zu erfüllen, bringt Arseni einen der lärmempfindlichen Olme „mit Harry Belafonte“ unbeabsichtigt zu Tode und wird aus der Gemeinschaft verstoßen.
Kaum endet die komisch-absurde Szene bei den sprechenden Olmen, kaum dass Arseni tiefer in den Berg getrieben wird, beginnt sich der Text immer weiter zu verdunkeln. Der Held der Geschichte bemerkt, dass er längst nicht der erste ist, der hierhergelangt ist, dass er in einer Reihe steht mit anderen Menschen, die seit unbestimmt langer Zeit in winzigen Kammern zaudern und zögern: Sie getrauen sich nicht, in die dunkeln Gänge, die ihnen einen Ausweg böten, einzudringen, oder gibt es überhaupt einen Ausweg? Hat der Mensch möglicherweise nur die Wahl zwischen dem Verharren und einem Weiterwollen, das ihn nicht unbedingt weiterbringt? Arseni entscheidet sich immer wieder für die Tiefe, er arbeitet sich durch Finsternis und Grausen, bis die letzte Halle erreicht ist.
Am Ende des Buches verzichtet Sailer weitgehend auf Beschreibungen, beschränkt sich fast vollständig auf Dialoge und erreicht so eine Art Verolmung seiner Sprache: Sie wird gänzlich augenlos und kalt und verliert ihre Pigmente. Sinnlos leer hallen die Sätze, die aus dem Dunklen an Arseni gerichtet werden, durch den allertiefsten Teil der Höhle.
Die Konsequenz, mit der Sailer jeden Hinweis auf einen möglichen Ausweg, auf ein Loch ins Freie, in das ein Lichtstrahl fällt, vermeidet, beeindruckt, ruft aber beim Lesen nicht selten so etwas wie klaustrophobische Zustände hervor. Das menschliche Leben: Allein eine Klettertour durch eine enge, kalte Finsternis voll tauber Bedrückung? Nach dem Ende der Lektüre musste sich der Autor dieser Zeilen erst einmal zurückarbeiten ins Tageslicht. Glücklicherweise schien an jenem Tag die Sonne tröstend warm auf die Welt.
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