Von Haarzauber und Zauberhaaren
Können Haarprobleme eine Romanhandlung tragen? In „Die Sache mit Norma“ macht die finnische Autorin Sofi Oksanen die Probe aufs Exempel: Haare stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Nun könnte man seichte Genre-Literatur aus dem Chick lit-Regal befürchten, Friseursalon-Geplauder und bad-hair-day-Gerede inklusive. Aber Oksanen verzapft keinen heiteren Frauenroman, sondern eine verstörend-fesselnde Handlung, die sich über Genregrenzen hinwegsetzt. Ihr Roman ist Kriminalroman und auch Familiengeschichte. Manchmal mysteriös, meist rätselhaft, durchweg spannend und nie flach; auch in den Passagen nicht, die tatsächlich im Salon „Haarzauber“ spielen und sich inhaltlich um Extensions und Echthaar-Qualitäten drehen.
Die Romanhandlung ist verwickelt, und bewegt sich in verschiedenen Erzählsträngen. Seinen Ausgang nimmt alles mit der Beerdigung von Normas Mutter Anita. Norma, die Hauptperson des Romans, glaubt nicht an den Selbstmord und versucht der Frage auf die Spur zu kommen, weshalb ihre Mutter vor eine einfahrende U-Bahn gestürzt ist.
In der Tradition des Whodunit lässt Oksanen ihre Protagonistin in der Vergangenheit der eigenen Mutter stöbern. Norma findet peu à peu rätselhafte Bruchstücke, aus denen sie sukzessive das Leben ihrer Mutter zusammensetzt. Ein mühsames und heikles Puzzle-Spiel, das weit zurück in ihre Familiengeschichte reicht.
Von Beginn an ist die Stimmung des Romans bedrückend, voller unguter Vorzeichen und abgründiger Andeutungen. Dass Norma an Hypertrichose, also übermäßigem Haarwuchs leidet, verrät schon der Klappentext. Oksanen versieht diese vererbbare Krankheit jedoch noch mit einer zweiten, übersinnlichen Komponente: Norma hat nicht nur einen übermäßig ausgeprägten Geruchssinn, sondern kann Menschen auch ansonsten „lesen“, wie aufgeschlagene Bücher. Wahrlich unheimlich sind jedoch ihre Haare; als genüge es nicht, dass sie unaufhörlich nachwachsen, reagieren sie auch auf Stimmungen. Ringeln sich plötzlich, jucken, drängen unter Mützen und Schals hervor, besitzen einen eigenen Willen. Normas Gefühle dringen in ihr Haar, das Haar dringt in ihr Leben, wie im Märchen vom „Süßen Brei“. Normas Haar sieht Tod und Krankheit voraus und wirkt – gehäckselt und geraucht – als bewusstseinserweiternde Droge. Wenn es um Haare geht, Oksanens Sprache voller schillernder Bilder: „Sie (=Normas Haare) bogen sich Johannes entgegen, als wäre er aus Kandiszucker gemacht, und wellten sich, als wären sie schon zur Seereise bereit.“
Ganz nebenbei verpasst die Autorin ihren Lesern noch die Erkenntnis einer kulturgeschichtlichen Enthüllung; sie fördert das wahre Geheimnis der Lieblingsmuse der Präraffaeliten Elizabeth Eleanor Siddal mit ihrer roten, hüftlangen „üppigen Haarwolke“ ans Licht: „Sie war eine wie Norma gewesen.“ So zumindest nach Oksanens üppig wuchernder Erzählfreude.
Der Bogen, den Sofi Oksanen in ihrem Roman schlägt ist weit: Eva, die Urgroßmutter, die ebenfalls unter ihrer ungezügelten Haarpracht litt, wanderte nach Amerika aus und versuchte dort ein einigermaßen normales Leben zu führen. Von diesem Leben berichtet Eva selbst aus dem Off: aus dem Mund der „verrückten Helena“. Ein verwegener Erzähltrick, der so verstörend wie faszinierend wirkt.
Trotz solch übersinnlichen Phänomene wie widerborstige Haare mit Eigenleben und Stimmen aus der Vergangenheit ist Oksanens Roman drastisch gegenwartsbezogen: Offensichtlich gut recherchiert breitet uns die Autorin nicht nur die Machenschaften einer international agierenden Echt-Haar-Mafia aus, sondern thematisiert auch Themen wie kommerzielle Leihmutterschaft und Kindsadoption. Ob Gebärmutter oder Kopfhaare: Frauenkörper sind für Normas Gegenspieler Verfügungsmasse. Ob Südostasien, Lateinamerika oder die Ukraine: Der Frauenkörper wird zum Rohstofflieferant für reiche Mitteleuropäer.
Normas Haar ist Lust und Last zugleich. Wunderschön auf der einen Seite, gefährlich auf der anderen. Ihre Mutter sorgt dafür, dass Normas abnormer Haarwuchs geheim bleibt. Die üppige Schönheit ihrer Haare und ihr nie versiegendes Wachstum machen Norma zu einer lukrativen Rohstofflieferantin für begehrtes europäisches Echthaar in Remy-Qualität. Nicht ungefährlich, angesichts der Gier von „Haarwunders“ Kundinnen.
Oksanen arbeitet mit unterschiedlichen Erzählsträngen, die sie kunstvoll miteinander zu einem dichten Flechtzopf verknüpft. Die Erzählung wird wechselnd aus der Perspektive Normas und Marions (Leiterin des Haarverlängerungssalons „Haarwunder“) erzählt. In diesen Erzähltext werden Einschübe gefügt, deren Urheberin zunächst im Dunkeln bleibt; es sind – so erschließt man es sich im Laufe der Lektüre – Botschaften Anitas an ihre Tochter Norma. „Die Sache mit Norma“ stellt einige Anforderungen an das Kombinationsvermögen des Lesers. Oksanen stellt Nebelkerzen auf, die es einem schwermachen, immer gleich zu wissen, um was es geht, wer spricht. Die übersinnlichen Aspekte, die eng an die rigoros reale Handlung geschmiedet sind, machen die Orientierung in Normas Kosmos schwer, zumal sie selbst eine Suchende und Irrende ist. Einzig Anita besitzt den Überblick über Vergangenheit und Gegenwart. Ihre kurzen Auslassungen und Tagebuchnotizen sind jedoch kryptisch und lassen sich erst in der Rückschau vollständig dechiffrieren.
Sofi Oksanens Sprache (die Übersetzung aus dem Finnischen verantwortet Stefan Moser) ist kraftvoll und bildhaft. Vor allem wenn es darum geht Normas Sinneseindrücke zu beschreiben; beispielsweise „die Räucherstäbchenfahne, wie sie diejenigen hinter sich herzogen, die im Winter nach Goa gehen würden, (…), scharfes Chili, süßliche Blüte.“
Bei aller erzählerischen Fertigkeit und sprachlichen Schönheit geht die Verrätselung und Vernebelung des Geschehens manchmal etwas zu weit. Auf der einen Seite nervt das. Auf der Seite bekommt man Lust, das Buch ein zweites Mal -die Auflösung vor Augen- zu lesen.
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