Der Schlüssel des Gelingens liegt im Detail
Estland, der nördlichste Staat des Baltikums, war in seiner Geschichte wiederholt im Fokus deutscher und russischer Interessen, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind. In „Als die Tauben verschwanden“, dem nach „Stalins Kühe“ und „Fegefeuer“ bereits dritten Roman einer geplanten Estland-Tetralogie, widmet sich die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen der jüngeren, wechselvollen Gewaltgeschichte ihres Mutterlandes: Der Annexion Estlands 1941 durch die Rote Armee als Folge des Hitler-Stalin-Pakts, der anschließenden Okkupation durch Nazi-Deutschland sowie der nur fünf Tage währenden Unabhängigkeit Estlands bis zur neuerlichen sowjetischen Annexion 1944. Oksanen zeigt ein Land in fortwährendem Ausnahmezustand mit der Allgegenwart von Angst, Verfolgung und (Todes)Lagern bis zum Jahr 1966, dem Endpunkt ihres Romans.
Drei junge Esten stehen im Mittelpunkt, die in zwei Handlungszeiträumen, den Vierziger- und Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts, begleitet werden: Der Gute (Roland), der Böse (Edgar) und das Weib (Juudit). Alternierend wird aus ihrer Perspektive erzählt, wechseln die Zeitebenen, wird passgenau Stein für Stein ins vielteilige Mosaik der estnischen Geschichte gelegt.
Roland Simson, der wortkarge Ich-Erzähler, ist Mitglied der historisch verbürgten „Waldbrüder“, einer für die Unabhängigkeit Estlands kämpfende Partisanenbewegung. Der Idealist kämpft im Untergrund gegen die wechselnden Besatzer und hilft Fluchtwilligen aus dem Land. Schon früh erkennt er den wahren Charakter seines Cousins Edgar, der zu Beginn des Romans noch mit den Waldbrüdern kämpft.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mit zittrigen Bewegungen an seinen Reithosen herumnestelte, sein Gesicht hatte eine für den Kampf unpassende Farbe. Erst kürzlich waren wir in Finnland ausgebildet worden, und ich hatte mich um Edgar gekümmert wie um ein Kind, damit er zurechtkam.
Er sieht in ihm einen Maulhelden, den notorischen Lügner, das verwöhnte Kind.
Ich kann das nicht, sagt Edgar nach einem Kampf zu Roland. Sei mir nicht böse.
Zartbesaitet, dieser Edgar Parts, denkt man zunächst, empfindet vielleicht Sympathie. Der Eindruck ändert sich schnell. Er ist die überzeugend gestaltete Hauptfigur des Romans, ein aalglatter Egomane, der wendig zwei totalitären Systemen dient, ein Karrierist von rascher Auffassungsgabe, geschickt im Fälschen von Dokumenten und der eigenen Identität, stets auf der Seite der Gewinner. Als Eggert Fürst kollaboriert der Opportunist mit den Nazis, verrät seine Landsleute und buckelt sich nach oben. Nach der sowjetischen Machtübernahme legt Edgar sich geschichtsfälschend eine Opferrolle zu, wird systemtreuer Spitzel und Denunziant, um schließlich 1965 als Sowjetschriftsteller, kreativ seine Erfahrungen verlügend, ein Leben mit bescheidenen Privilegien zu führen. Hier führt Oksanen die Taktiken des omnipräsenten KGB (Propaganda, Provokation, Verschleierung, Einschüchterung, Gewalt) vor und zeigt, dass auch ein funktionierendes Rädchen wie Genosse Parts sich nie in Sicherheit wiegen kann. Dass er obendrein noch schwul zu sein hat, ist allerdings eine von mehreren Schwächen des Romans. Wohl wird die sexuelle Verweigerung gegenüber seiner Ehefrau Juudit konstatiert, doch die Zuschreibung „schwul“ bleibt bloße Behauptung ohne Entsprechung in Edgars Sein, weder emotional noch intellektuell.
Juudit hingegen träumt von einem Leben als Ehefrau und Mutter und verkümmert an Edgars Seite. Um den estnischen Befreiungskämpfern zu helfen, sucht sie Kontakt zu den Nazis und verliebt sich in SS-Hauptsturmführer Hellmuth Hertz. Mitten im Krieg führt sie an seiner Seite das genussvolle Leben eines Luxusweibchens, des Nachdenkens nur bedingt fähig und willig. Sie lässt sich von Roland als Fluchthelferin anwerben, wird seine Geliebte und lebt bis 1948 mit ihm bei den Waldbrüdern. Schließlich kehrt sie aus Mangel an Alternativen zu Edgar zurück und verwahrlost, süchtig nach Alkohol und Medikamenten. Erst 1966 gelingt es Edgar, sich mit Juudits Einweisung in die Psychiatrie von ihr zu befreien.
Sein Cousin Roland kämpft nach der sowjetischen Machtergreifung weiterhin mit den Waldbrüdern für ein freies Estland. Er weiß um die Charakterelastizität Edgars und versucht, ihm nicht mehr zu begegnen. Roland wird schließlich auf dem Land sesshaft, nimmt den Namen einer Frau an, die er aus Jugendtagen kennt, verfällt dem Alkohol. Durch Zufall kommt Edgar auf die Spur von Rolands Tochter und heftet sich an ihre Fersen. Der Showdown zwischen dem betrunken schnarchenden Roland und Edgar, der in seinem Cousin den Einzigen weiß, der seine wahre Identität verraten kann, wird angedeutet und bleibt letztendlich der Phantasie der Lesenden überlassen.
„Als die Tauben verschwanden“ ist ein verdienstvoller, partiell packender Roman mit einigen Schwächen, der von der gewalttätigen jüngeren Vergangenheit Estlands erzählt, über die bislang noch nicht oft geschrieben wurde. Es dauert anfangs allerdings eine zu lange Zeit, bis man sich zurechtfindet, das „Ich“ im Verlauf Roland oder das „Wir“ in der ersten Szene Juudit und Roland zuordnen kann und es ist empfehlenswert, den Romananfang zwischendurch noch einmal zu lesen, um ihn wirklich verstehen zu können. So ist manches in diesem Werk unnötig kompliziert. Es mangelt auch an der Personenführung, weil jede(r) der drei hier überfrachtet als quasi allegorische Gestalt eine zu große Last tragen muss. Die Charaktere von Roland und Juudit, bleiben weitgehend blass, sind psychologisch inkonsistent, und Oksanen scheint für die Psyche ihrer Figuren und einer emotionalen Nachvollziehbarkeit wenig Interesse aufzubringen, was für das Lesen eines 400-Seiten-Romans ein gravierender Mangel ist. Gefühle sind rar, Sex passiert, irgendwie. Was Juudit an Roland bindet, was an Edgar, bleibt unklar. Wenn Verlieben denn einmal beschrieben wird, dann gerinnt dies zum schwer erträglichen Klischee:
..., denn sie selbst war entflammt. Ihre Seele war in heftige Bewegung geraten, und in ihr loderte ein großes Verlangen, ... Ihr Herz befand sich in einem haltlosen Zustand, ihre Wangen hatten sich gerötet, als wäre sie noch ein junges Mädchen und sich ihres Begehrens nicht bewusst, und ihre Kniekehlen waren feucht trotz der am Fußboden frierenden, nur von Strümpfen bedeckten Beine. Hinter ihrem Rücken befand sich ein Eiskeller, vor ihr glühte ein heißer Sommertag, Hitze und Kälte wechselten einander unbeherrschbar ab.
Kein großer, aber ein ambitionierter Roman Oksanens, den Angela Plöger aus dem Finnischen ins Deutsche übersetzt hat. Die Tauben des Titels verschwanden übrigens, weil sie aus Not gegessen wurden
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