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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Lange, nachdem das Wort geschrieben ist, hören wir, was es bedeutet

Mütze # 17
Hamburg

 

Die siebzehnte Mütze bringt Autoren, die auch in der sechzehnten waren, wie Svein Jarvoll als auch Robert Kelly. Außerdem Marius Daniel Popescu, Mara Genschel, Konstantin Ames, Christian Steinbacher, John Ashbery, Stefan Döring und Jude Stéfan. Los geht's mit Svein Jarvoll, doch nicht mit seinem Prosaprojekt Eine Australienreise, sondern diesmal mit Lyrik, die nicht ganz so verstiegen wie jene Prosa, sich selbst als norwegischer Exilant in Australien zum Thema macht. Eigensinnig und unvorhersehbar, bisweilen mit einem leicht rotzigen Zug versehen, präsentieren sich seine Gedichte. Original in Englisch, von Urs Engeler persönlich übersetzt.

"Der Berg
(nach Hsieh Ling-Yün)

Gefrorener Atem hing in der Luft über dem Vieh.
Der Fels mitten im Bach bricht den Fluss des Wassers.
Im Wald höre ich Menschen, aber ich sehe sie nicht,
auf dem ersten Hügel sehe ich Menschen, aber ich höre sie nicht.
Die Wolken sind manchmal über, manchmal unter mir.
Der traurige Schrei des Bussards auf dem Gipfel:
Er kann den Unterschied von Tal zu Tal hören.
Der Schnee auf dem Berg mir gegenüber ist gelb,
der leuchtende Fluss im Tal bewegt sich nicht,
aber ich kann ihn durch die Nacht stürzen hören.
Wenn ich den Schnee in der Dämmerung verlasse, blendet das Gras
Im See zeigt der Berg auf mich:
Warum lebe ich so blödsinnig allein?

(keine Übersetzung, ich habe ein paar Sätze von Hsieh übernommen, das ist alles)"

In Marius Daniel Popescus Zyklus Der Fliegenfotograf, übersetzt von Alexandru Bulucz und Marcus Roloff, wird eine erstaunliche Klammer auf (und wieder zugemacht), mit listenartigen Gedichten, die sich in Essensaufzählungen ergehen, eine bedrohliche Harmlosigkeit spielen, um dann in kürzeren eingeklammerten Gedichten die volle Palette einer durchdringenden Bedrohung aufzumachen. Schule, Anstalten, Bahnhöfe, allgegenwärtige Kontrolle spiegeln eine fast totalitäre Atmosphäre, in der Popescu Themenschlösser aufzählt, freirhythmische Politik vs oder in Poesie einstreut und gestaltet, nicht ohne beißenden Humor.

"Klaustrophobie

Einst stand auf dem Polizeieinsatzwagen
Miliz"

"Duzfreunde

Ihr seid
ein Libellenpaar.
Und ich bin das auch."

"Hefezopf

Der Schüler Constantin Pavel
wurde auf dem Klo
beim Rauchen erwischt, während
des Naturkundeunterrichts.

Am nächsten Tag wurde ihm der Kopf kahlgeschoren."

In der Schlussklammer Aus dem Konfitüreregal heißt es:

"[...]
Dialog:
Hey, willst du etwa nicht gehorchen?
Den Ausweis zur Kontrolle!
Nimm deine Sachen und komm mit aufs Revier!
Weißt du was das ist? Du verdammter Hurensohn!

Im Keller schlägt der Unteroffizier mit der Handfläche
in seine Gesicht und befiehlt ihm, den Inhalt seiner Jacken-
und Hosentaschen auf den Tisch zu legen, er kontrolliert
seinen Koffer und steckt ihn in Zelle Nummer Eins
die erste von links, neben einen
zehnjährigen Knirps, der im Schlafanzug aus dem
Städtischen Irrenhaus geflüchtet ist.

Dialog:

Hey, zu wem gehörst du
Wie heißen deine Eltern
Wo wohnst du
Hey warum bist du aus dem Krankenhaus abgehauen
Seit wann lebst du auf der Straße
hey, hast du das in der Schule gelernt

Nach fast fünf Stunden
lässt der Amtsrat sie beide frei
unter einer einzigen Bedingung
Dass so etwas nie wieder vorkommt"

Die nächste Doppelseite füllt Konstantin Ames. In höchster Schlagzahl unter dem Titel sTiL.e (dir) Sämtliche Landschaften, Welt scheint eine wildgewordene Assoziationsmaschine am Werk, voller Verweise, Links, fast eine Art Diskurslyrik in ein Effektgerät geschaltet, eine Fuzzbox oder heavy FX jedenfalls. Dort wummern u.a. Licks wie "frisch verwitwete Zungen", "Feld zu weit, (bitchst) du halt zu blöd", das "Prinzip Öffnung", "Pechvogel vertilgt Glückspilze" oder "Tra tra tra... (Zeile nicht länger als 24h vortragen)".

Es folgt mit Christian Steinbachers "Beizen oder ätzen" ein undurchdringliches und ebenfalls hochassoziatives Prosageflecht, das sich mit Musik, Computer und Klicken zu beschäftigen scheint, in "größtmöglicher Konnotationsbreite", wie er selbst sagt. Es sei Teil eines längeren Prosastücks, das im Czernin Verlag erscheinen wird, ausgehend von einer Claude Simon Übersetzung. Sprich ein referentielles Stück Literatur, das absolut seine Momente hat.

"[...]
Dann aber mal wirklich zurück in die Welt der Schlager, und, man glaubt es kaum, die wiedergefundenen Moll-Akkorde in Daliah Lavis Song über ein "zerstörtes" Lied (zumindest in dem Video eines Auftritts aus dem 1991erJahr, wo diese Sängerin des noch 1970 erschienenen Hits zu Beginn aus einem golden umrahmten Tor auf die Bühne tritt; die Typen und Frauen an den Tischen im Raum größtenteils mit Frisuren, als wären sie in eine Variante der Siebzieger-Jahre zurückversetzt, und fast alle von ihnen schauen der Sängerin, da sie durch das Ensemble der von diesem Statistenpublikum eingenommenen Tischchen schreitet, nicht nach, sondern starren die meiste Zeit irgendwohin, statisch und mit einer eher steifen Miene als irgendwie wohlig-betretene Gesichter, die einem aber auch unberührt erscheinen, oder auch etwas zu bedacht oder eigentlich auch wieder gar nicht bedacht, sondern nur ernst oder auch das nicht, nein doch, eher nur Ernst ausstrahlen wollend für so eine Schau, und ich weiß schön langsam nicht mehr, wie man das ("Verdammt, heute gibt's angeblich sowieso nur noch Spiel statt Ausdruck und Eingebundenheit, und was soll dann diese Sentimentalität jetzt!")), also diese liedbestimmten Akkorde. "Wer hat mein Lied..."

Ab hier beginnt ein etwas schwächerer Teil des Heftes, der sich mit Mara Genschel und erneut Steinbacher befasst. Schwächer, weil, wie man später erst erfährt, die beiden Texte in Wirklichkeit Reden sind. Ihr Ziel also die orale Aufnahme bedient, im Abdruck stehen sie allerdings etwas längenhaft da. In Genschels Prosa Selfies Selfies mit Preisgeld, die definitiv vom Konzept her Sinn machen, also warum nicht ein Selfie aus Worten? – sie mit dem Heimrad Bäcker Förderpreis und ihren Kontodetails und wie nötig dieser genaue Betrag ist etc. und dass sie davon auch gerne ein Wolfs-T-Shirt kaufen möchte – zeigt sich eine irritierende Statusmeldung in typischer Genschel bad taste Haltung, irgendwie an Abseitigkeit kaum zu übertreffen, und parasitär am sogenannten Betrieb haftend. Dies wird der prinzipiellen Antwort gegenübergestellt, Christian Steinbachers wohlwollender Rede zur Verleihung jenes Preises, die über akademistisches Erklären von Genschel-Gags nicht hinausragt, was aber im Kontext einer Rede an ein Saalpublikum dieses und jenen Datums auch wiederum völlig Sinn macht.

Danach hat Robert Kelly das Wort, und wie in den Mützen zuvor, ist es das Maximenprojekt des wunderlichen Martin Traubenritter, mit dem das Heft wieder Fahrt aufnimmt. Als Beispiele:

"119.
Jede Zahl ist die versiegelte Grenze rund um eine Unendlichkeit an Erfahrungen.

120.
Nichts ist ermüdender, als Zahlen anzuschauen.

122.
Wie kann man ein kurzes Gedicht von einer langen Maxime unterscheiden?
Gedichte sind weise, aber nicht sehr schlau.

130.
Niemand geht an ein schweigendes Telefon.

131.
Spiel nicht mit Scheren, wenn du an Freunde denkst.

160.
Anderswo wird überbewertet.

(Das hörte ich eine alte Frau zu ihrem mittelalterlichen Sohn sagen, der sie drängte, für ihre Gesundheit eine Reise zu unternehmen.)

200.
Leben auf der Erde ein Kampf, ein Kontrapunkt von Bäumen am Horizont. Sei nicht dort. Sei hier. Sei mit mir."

Im Anschluss kommt der unlängst verstorbene John Ashbery zu Wort. Mit einem Gedicht namens Definition of Blue, das in der innovativen Übersetzung von Stefan Döring, mit einem witzigen eingeschobenen, konsequenten Konjunktiv versetzt ist: "In Definition of Blue meint John Ashbery...":

"Each new diversion adds its accurate touch the ensemble, and so
A portrait, smooth as glass, is built up out of multiple corrections
And it has no relation to the space or time in which it was lived."

"Jede neue Ablenkung füge ihre akkurate Spur dem Ensemble hinzu, so dass / ein Bildnis, glatt wie Glas, erzeugt werde aus vielfachen Korrekturen, / und es habe keinen Bezug zu dem Raum oder der Zeit, in welchen es gelebt worden sei."

Den Abschluss macht ein geheimnisvoller Prosatext von Jude Stéfan mit dem Titel Die beiden Schwestern. Von Kurt Aebli übersetzt, wirkt er wie eine semi-dokumentarische Dekonstruktion eines existenzialistischen Tschechow ohne Speck. Die beiden Schwestern sind selbstgewählte Außenstehende, unkonventionell. Sie "wollen nicht dick werden". Sätze wie "Die beiden Schwestern waren beim Orgelkonzert" sagen viel und nichts zugleich. Ein schöner Abschluss, der sich Wertigkeiten und Weisheiten, aber auch Wagnissen gekonnt entzieht.

Svein Jarvoll · Marius Daniel Popescu · Konstantin Ames · Christian Steinbacher · Mara Genschel · John Ashbery · Stefan Döring · Robert Kelly · Jude Stéfan · Urs Engeler (Hg.)
Mütze #17
Urs Engeler
2017 · 6,00 Euro

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